Essen. . Umfrage unter den Gymnasien in den Städten und Kreisen: Vom Land geplante Option aufs Turbo-Abi wird nicht genutzt. Wechsel birgt auch Probleme.

In Herne haben die Eltern sogar applaudiert. Das Otto-Hahn-Gymnasium hatte die Familien interessierter Viertklässler eingeladen, um sie vor dem anstehenden Wechsel auf die weiterführende Schule über das Gymnasium zu informieren. Vor 300 Gästen beantwortete Direktor Egon Steinkamp auch die zentrale Frage: Kehrt seine Schule zum Abitur nach neun Jahren (G 9) zurück? „Als ich sagte, dass alle fünf Herner Gymnasien geschlossen zu G 9 zurückkehren werden, gab es offenen Applaus“, sagt Steinkamp. Und bemerkt: „Erst wurden wir getrieben, junge Leute schnell zum Abitur zu bringen, jetzt wollen die Eltern ganz eindeutig einen entschleunigten Schulalltag für ihre Kinder.“

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ARCHIV - ILLUSTRATION - «G8» und «G9» steht am 01.04.2014 in einem Gymnasium in Straubing (Bayern) an einer Tafel. Die Sitzung des NRW-Kabinetts beschäftigt sich am Dienstag mit dem neuen Schulgesetzentwurfs zur Abkehr vom «Turbo-Abitur». Foto: Armin Weigel/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++
Von Stephanie Weltmann und Sebastian Hetheier

Diesem Wunsch wollen offenkundig deutlich mehr Schulen in NRW Rechnung tragen als erwartet. Das zeigt eine Umfrage dieser Zeitung und ihrer Lokalredaktionen unter den 142 öffentlichen Schulen in elf kreisfreien Städten und den vier Kreisen der Region. Ergänzt durch Recherchen des „Westfälischen Anzeigers“ im Fall der Stadt Hamm ist ein umfassendes Bild über 128 Schulen entstanden, die sich eindeutig geäußert haben: Nicht eine einzige erklärte, dass sie aktiv beim Turbo-Abitur bleiben wolle.

G 8 hat kaum noch eine Lobby

Grundsätzlich gilt mit dem Schuljahr 2019/20 in NRW: Alle Gymnasien kehren per Leitentscheidung des Landes zurück zum Abitur nach neun statt wie bisher acht Jahren (G 8). Im derzeitigen Gesetzesentwurf ist aber eine Hintertür vorgesehen: Nach den diesjährigen Sommerferien kann die Schulkonferenz, ein Gremium aus je sechs Lehrern, Eltern und Schülern, beantragen, beim Turbo-Abi zu bleiben. Bisher war das Schulministerium davon ausgegangen, dass jede zehnte Schule diese Option nutzt.

Abfrage: G 9 oder G 8?
Abfrage: G 9 oder G 8?

Doch weit gefehlt: Obwohl noch viele G 9-Details offen sind, haben sich die Direktoren in vielen Revierstädten über eine gemeinsame Rückkehr zu G 9 verständigt. Das gilt etwa für Duisburg, für Bottrop oder Bochum. Dutzende Schulleiter berichten zudem von Probeabstimmungen unter Eltern und Lehrern zugunsten G 9, an denen man sich orientieren wolle. An der Otto-Pankok-Schule in Mülheim stimmten 93 Prozent der Eltern für G 9. Vielfach haben Schulkonferenzen ein nicht bindendes Vorab-Votum abgegeben. „Eltern, die sich G 8 wünschen, sind eine sehr begrenzte Minderheit“, heißt es im Albrecht-Dürer-Gymnasium Hagen.

Umstellung erst 2019

Das Stimmungsbild in den Städten ist klar: Lediglich aus vier Gymnasien in Dortmund und Hagen fehlen Angaben. In den Kreisen Unna, Recklinghausen, Ennepe-Ruhr und Wesel zeichnet sich ein ähnliches Bild: 44 von 55 Gymnasien antworteten. Auch bei ihnen zeichnet sich eine Rückkehr zum Abitur nach neun Jahren ab.

Wie sich die Gymnasien positionieren, ist für die heutigen Viertklässler von entscheidender Bedeutung. Zwar soll die Umstellung auf G 9 erst 2019 beginnen. Betroffen sind davon aber alle Kinder, die dann in der fünften und der sechsten Klasse sind. Also auch die heutigen Viertklässler.

Vermutet wird unter den öffentlichen Schulen, dass besonders die privaten Gymnasien als G 8-Schule ihr Profil schärfen wollen. Auch das ließ sich in der Umfrage nicht bestätigen. Im Revier gibt es zwölf private, meist konfessionelle Gymnasien. Mindestens zehn von ihnen wollen laut Träger tendenziell zu G 9 zurückkehren. Lediglich außerhalb des Reviers, im Bistum Köln, gebe es eine Schule, die sich nicht klar zu G 9 bekannt habe.

Lehrpläne müssen neu erarbeitet werden

Die Tendenz muss indes nicht bedeuten, dass die Schulen mit wehenden Fahnen in den erneuten Wechsel einsteigen. Viele Schulleiter merken an, dass sie mit G 8 durchaus gut gefahren seien. „Der Wechsel zu G 8 war damals sehr aufwendig, wir haben bis zuletzt daran gearbeitet, das zu optimieren, und es hätte auch geklappt“, sagt Bernhard Arens, Vorsitzender der Bochumer Bezirksdirektorenkonferenz. Gabriele von Heymann berichtet, wie sie als Leiterin das Gymnasium Essen-Überruhr mit neuen Konzepten aufwendig neu aufgestellt hat. „Vor meiner Pensionierung wird es nun meine Aufgabe sein, alles wieder zurückzudrehen.“ Das sei Ressourcenverschwendung, fügt sie bitter hinzu.

Zumal die Schulen viele Probleme befürchten: Mit mehr Schülern drohen Raumnot und Lehrermangel, Lehrpläne müssen neu erarbeitet werden. Dass die Pädagogen bei G 9 viel mehr Unterrichtszeit hätten, hält von Heymann zudem für Irrglauben. In der Unterstufe rechnet sie mit nur 17 Stunden mehr.

Das Hin und Her von G8 und G9

Was bedeutet G8 und G9?

G8 bedeutet, dass die Mittelstufe in insgesamt fünf Schuljahren organisiert wird. G9 bedeutet, dass die Mittelstufe in sechs Schuljahren absolviert wird. In beiden Fällen schließen sich drei Jahre Oberstufe an.

Mit G8 mehr Schulstunden pro Woche und weniger Freizeit

In acht Schuljahren sollen die gleichen Inhalte in kürzerer Zeit vermittelt werden. Müssen die Schüler, die neun Jahre zur Schule gingen durchschnittlich 30-31 Stunden die Woche im Unterricht sitzen, müssen Schüler des achtstufigen Gymnasiums durchschnittlich 33-34 Stunden pro Woche die Schulbank drücken. Das bedeutet regelmäßigen Nachmittagsunterricht.

Das sagen die Kritiker von G8

Viele Eltern, Schüler und Lehrer beklagen, dass in fünf Schuljahren ein entspanntes Lernen nicht möglich sei. Zeit für Projekte bliebe kaum. Schüler litten unter dem Druck und müssten Hobbys aufgeben. Eine weitere Auswirkung von G8 ist, dass immer mehr Minderjährige ins Studium starten und für viele Prozesse die Einwilligung der Eltern brauchen.

Das sagten die Befürworter von G8

Befürworter betonen, dass das Turboabi die Schüler auf den späteren Leistungsdruck in Uni und Arbeitsleben vorbereite. Außerdem seien im internationalen Vergleich die deutschen Abiturienten zu alt und damit nicht wettbewerbsfähig. Durch die verkürzte Schulzeit würden sie zudem ein Jahr früher Steuern und Sozialabgaben zahlen sowie früher in die Rente einzahlen.

Rückwärtsrolle zu G9: Mit Abschluss in die Oberstufe

Zum Ende der Sekundarstufe 1 in der 10. Klasse erhalten die G9-Schüler nach bestandener zentraler Prüfung wieder einen mittleren Schulabschluss. Bei G8 wechseln die Jugendlichen nach der 9. Klasse ohne Abschluss in die Oberstufe.

Zweite Fremdsprache wieder ab der 7. Klasse

Wahrscheinlich beginnt die zweite Fremdsprache im G9-Modell wieder ab der siebten Klasse. Laut Schulministerium sprechen sich alle Fachverbände für diesen Schritt aus. Bei G8 starteten die Schüler bereits in der 6. Klasse mit dem Unterricht in Spanisch, Französisch etc.

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