Essen. . Das Ruhrgebiet schrumpft bis 2040. Aber nicht so stark wie erwartet. Und nicht überall. Zum Altersheim des Landes wird das Revier wohl nicht.
Glauben Sie nicht alles, was in der Zeitung steht! Vor knapp 20 Jahren wagte die WAZ gemeinsam mit dem Landesamt für Statistik den Blick in die Glaskugel. Im Herbst ‘99 sagten die Experten vom Land dramatische Verluste bei der Einwohnerzahl voraus. Bis 2015 würden alle Kernstädte des Reviers verlieren. Essen müsse sich auf nur noch 525 000 Einwohner einstellen, Dortmund auf 529 000. Die Gründe: zu wenig Jobs, Überalterung, der Zeitgeist Stadtflucht.
Und heute? Boomen die großen Städte wieder. Aktuell liegt Essen nahe an der 600 000er-Grenze und Dortmund knapp darüber, jedenfalls nach Zählweise der Kommunen. Der Kreis Unna dagegen hat knapp 40 000 Einwohner weniger als erwartet. Zur Ehrenrettung der Experten sei gesagt, dass sich manches auch bewahrheitet hat (bei Duisburg, Bochum, Gelsenkirchen traf man ungefähr ins Schwarze). Und dass nicht alles vorhersehbar ist, was in der Welt passiert. Außerdem: Auch andere lagen daneben. Noch 2008 titelt das Essener RWI-Institut in einer Demografiestudie: „Der Pott leert sich“.
So würde das heute niemand mehr sagen. Seit der Jahrtausendwende hat das Ruhrgebiet zwar Einwohner verloren, nur längst nicht so stark und längst nicht überall dort, wo es erwartet wurde. Seit 2011 steigt die Zahl sogar wieder. Exakt 5 116 899 Einwohner leben nach den jüngsten amtlichen Angaben (vom 30. Juni 2016) in den Grenzen des Reviers, 100 000 mehr als 1999 vorausgesagt.
Wenden wir uns nun wieder der Glaskugel zu, in die Dr. Kerstin Ströker schon rein beruflich blickt. Die Soziologin ist Fachbereichsleiterin beim Statistischen Landesamt IT.NRW und Autorin der amtlichen Bevölkerungsvorausberechnung 2040/60. Das Datenpaket dient Land und Städten als planerische Basis: Schulen, Wohnen, Verkehr, Finanzen – fast alles hängt davon ab, wie viele Menschen hier leben. Alle drei Jahre wird so eine Prognose erstellt. Die nächste ist in Arbeit und soll im Laufe dieses Jahres erscheinen.
Kerstin Strökers Vorausberechnung stammt aus dem Jahr 2014. Zentrales Ergebnis ist, dass NRW bis 2060 rund eine Million Einwohner verliert, bis 2025 aber zunächst leicht wächst. Bis 2040 können 18 kreisfreie Städte und Kreise mit mehr Bevölkerung rechnen, 36 dagegen verlieren zum Teil stark. Im Ruhrgebiet gibt es nur zwei Gewinner: Essen und Dortmund (siehe Tabelle). Stark verändert sich auch die Altersstruktur. NRW-weit steigt das Durchschnittsalter bei Männern von 42,5 auf 46,3 Jahre, bei Frauen von 45,2 auf 48,6 Jahre. Extreme Zuwächse gibt es in den hohen Altersgruppen. In 27 NRW-Kommunen wird sich der Zahl der Alten verdoppeln. Bemerkenswert: An der Ruhr läuft der Prozess langsamer ab. In Gelsenkirchen und Duisburg steigt der Anteil derjenigen, die 80 Jahre und älter sind, bis 2040 um ein Drittel, am Niederrhein, im Sauer- und Münsterland dagegen teils um über 100 Prozent. Zum Seniorenheim NRWs wird das Revier also nicht.
Kerstin Ströker hat für uns die Flüchtlingswelle der Jahre 2015 und 2016 eingepreist. „Die Einwohnerzahl Nordrhein-Westfalens wird insgesamt vorübergehend sicher höher liegen, als noch in unserer Modellrechnung von 2014 vorausgesagt“, sagt sie. Die Prognose verändere sich in ihren Tendenzen aber nicht grundsätzlich. Ströker: „Es bleibt also dabei: Kreise verlieren Einwohner, große Städte, besonders die am Rhein, gewinnen hinzu.“ Auch die Altersstruktur werde sich wie vorhergesagt verändern, vielleicht etwas langsamer, weil viele der heutigen Zuwanderer jung seien.
Doch auch Migranten werden älter. Langfristig geht die Einwohnerzahl zurück. „Irgendwann ist dann auch der Boom in den Wachstumsregionen zu Ende“, so die Expertin. Ströker: „Dieser Effekt ließe sich auf Dauer nur durch eine höhere Zuwanderung oder eine deutlich höhere Geburtenrate verhindern.“
Im letzten Punkt könnten sich Prognosen erneut als schwierig erweisen. Wider Erwarten kommen in NRW mehr Kinder auf die Welt. „Anfang 2014 hatten wir in NRW eine Geburtenrate von statistisch rund 1,4 Kindern pro Frau“, berichtet Kerstin Ströker. Ende 2015 lag die Rate plötzlich bei über 1,5. Für 2016 liegen derzeit noch keine genauen Zahlen vor. Es müsse hier aber mit einem weiteren Anstieg gerechnet werden. „Das“, sagte die Bevölkerungsexpertin, „war nicht vorauszusehen.“