Ruhrgebiet. . Sie haben deutsche Wurzeln, sind in Polen geboren und flohen nach NRW: Wie leben die Aussiedler der 80er-Jahre heute im Ruhrgebiet?
Beinahe wäre das neue Leben der Szklarskis an einer alten Versicherung gescheitert. 4000 Kilometer waren Roman und Grazyna Szklarski in ihrem alten roten Skoda 105 gefahren. Von Polen nach Jugoslawien, durch die Tschechoslowakei, Ungarn und Österreich. Sie hatten vier Grenzen passiert, viermal in der Angst zurückgeschickt zu werden, viermal die letzten 800 DM der Familie tief in die Socken ihres achtjährigen Sohnes Arek gestopft. Nun parkte der Skoda zwischen Österreich und Deutschland. Die Uhr im Armaturenbrett zeigte 23 Uhr am 23. August 1988 an – und der deutsche Beamte ließ sie nicht passieren.
Er tippte auf das Datum des Kfz-Versicherungsscheins. 23. August 1988 stand auch darauf: Die Auslandsversicherung war abgelaufen. Roman Szklarski kramte das gut versteckte deutsche Wörterbuch hervor und übersetzte sich in die Freiheit: Noch bis Mitternacht sei die Versicherung doch noch gültig, meinte er und las vor: „Ich haben Geld und kaufen morgen neu.“ Erst viele Kilometer später weckten die Szklarskis ihren Sohn Arek. Das ist Deutschland, sagten sie ihm, das Land deiner Großmutter, hier bleiben wir. Arek schaute aus dem Fenster und dachte an die Worte auf seinen Spielzeugautos: „Hergestellt in Westdeutschland.“
Herkunft hinter dem Bilderrahmen
Es gibt kaum ein Land, aus dem über die Generationen so viele Menschen nach Deutschland eingewandert sind wie Polen. Allein in den 80er-Jahren flohen rund eine Million Menschen aus Polen in die Bundesrepublik, über 800 000 von ihnen waren Aussiedler. Ihre Eltern und Großeltern hatten Deutschland einst verlassen, durch Krieg, Vertreibung oder weil Grenzen in der deutsch-polnischen Geschichte damals nicht von Bestand waren. Überall in Polen steckten Beweise für diese Herkunft hinter Bilderrahmen und in Schubladen – wie eine Versicherung für schlechtere Zeiten.
In den 80ern waren es Kriegsrecht, politische Verfolgung und wirtschaftliche Not, die nach diesen Papieren greifen ließen. Koffer gepackt, im Rückspiegel ein Land, das man glaubte nie wieder zu sehen.
30 Jahre ist das her. 30 Jahre, in denen sich die Familien von damals ein neues Leben in der fremden Heimat ihrer Eltern und Großeltern einrichteten. Wie ist ihnen das gelungen? Was haben sie zurückgelassen?
Es ist Sonntagabend. Der erste Schnee dieses Dezembers hat die letzten Konturen des Marktplatzes in Essen-Katernberg verwischt. Nur das helle Licht aus einem bodentiefen Schaufenster gibt den in ihre Mäntel gewickelten Fußgängern Orientierung auf dem Weg zum Stadtteilcafé. Drinnen legt sich sofort die warme Luft aus salzigem Essen und süßem Parfüm auf die Brillengläser. „Dzień dobry“, so wünscht man auf Polnisch einen guten Tag. Frauen und Männer herzen sich, sie reichen Schalen mit Esspapier herum, das sie gemeinsam mit guten Wünschen fürs neue Jahr brechen. Der polnische Kulturverein „Piast“ hat sie nach Katernberg gerufen, die Tänzerin aus Wuppertal, den Sozialarbeiter aus Essen, die Krankenschwester und den Künstler. Sie alle stammen aus Polen, die meisten sind Aussiedler.
Roman und Grazyna Szklarski nehmen vorne links in einer Ecke neben einer Musikanlage Platz. Aus den Boxen fiept es kurz, eh sie das erste Lied anstimmen. Polnische Poplieder, englische Lieder auf Polnisch, etwas, das nach polnischem Schlager klingt. Roman Szklarski, ein heute schmaler Mann von 62 Jahren mit breitem Lächeln, tänzelt geradezu um die drei voll besetzten großen Tische. Die Brille sitzt ganz vorne auf der Nase, die grauen Haare trägt er offen unter einer roten Mütze. Es dauert nicht lange, da schunkelt und singt mit ihm der Raum. Einen Moment macht das vergessen, dass in der Dunkelheit vor den Fenstern der Katernberger Marktplatz liegt.
Der Wunsch nach Freiheit
„Wissen Sie“, wird Roman Szklarski einige Tage später an dem langen Furniertisch in seiner Gelsenkirchener Wohnung sagen, „ich lebe in Deutschland, ich unterhalte mich mit Ihnen auf Deutsch und fühle mich als Europäer.“ Trotzdem verliere er das Polnische ja nicht. „Die Leute brauchen manchmal so einen Ort, an dem sie die Lieder ihrer Kindheit und Jugend hören können“, ergänzt seine 59-jährige Frau Grazyna. „An dem sie dann eben polnisch sind.“
Schon in ihrer polnischen Heimatstadt Chojnów, kurz vor der Grenze zur DDR, hatte das Paar auf Bühnen gestanden. Mit ihrer Musikgruppe waren sie in Kneipen und Gaststätten aufgetreten, in Festsälen. Konzerte gab es auch in dem Kulturhaus der Stadt, das Roman Szklarski so erfolgreich führte, dass ein polnisches Fernsehteam über ihn berichtete. Die Szklarskis lachen viel, wenn sie von diesem Leben erzählen, das Gutes hatte, aber an Freiheit mangelte. Und Freiheit habe er für seine Familie gewollt, sagt Roman Szklarski.
Doch auch Bochum-Wattenscheid, wo die deutschstämmige Schwiegermutter seit den 70ern wohnte, setzte zunächst Grenzen. Die 800 DM aus der Socke waren hier nicht der Reichtum, den sie in Polen versprachen. Die Bochumer Notunterkunft, Stockbetten für drei Familien in einem Zimmer, war eine düstere Aussicht. Mit der Willensstärke, mit der die Szklarskis dem deutschen Grenzbeamten begegnet waren, rückten sie in der Zwei-Zimmer-Wohnung der Schwiegermama zusammen. Sie paukten Deutsch und schauten sich bei Nachbarn und Bekannten deutsche Gründlichkeit ab. Treppenflur putzen, Müll trennen, Nachtruhe. Sie fanden Arbeit, machten sich selbstständig und tauschten den Skoda gegen einen Audi.
Eine digitale Landkarte der Identität
Jacek Barski ist Leiter der Dokumentationsstelle „Porta Polonica“ zur Kultur und Geschichte der Polen in Deutschland. Er sagt, die Aussiedler der 70er- und 80er-Jahre seien von einem „unbedingten Willen zur Integration“ geprägt gewesen. „Viele waren eingeschüchtert vom Westen, andere wollten schlimme Erinnerungen hinter sich lassen, kaum einer dachte damals, je nach Polen zurückkehren zu können“, so Barski. Viele legten die polnische Sprache ab, aus Józef wurde Josef. Sie integrierten sich so konsequent, dass Polen zwar bald die zweitgrößte Zuwanderungsgruppe in Deutschland waren, dabei aber kaum öffentlich sichtbar. In der Bundesrepublik gibt es Schätzungen zufolge über zwei Millionen Menschen mit polnischen Wurzeln, sie haben sich aber nicht zu größeren Verbänden zusammengeschlossen.
Das unterschied die Aussiedler der 80er-Jahre von den Zuwanderern des 19. Jahrhunderts, den sogenannten Ruhrpolen. Landarbeiter und Handwerker, die vor 150 Jahren aus dem damaligen Ostpreußen in die aufstrebende Industrieregion des Ruhrgebiets zogen. Sie brachten ihre Kultur mit, gründeten Zeitungen, eröffneten Kindergärten. An einer einzigen Straße in Bochum siedelten sich über 30 polnische Organisationen an, Bäcker, Banken und Kindergärten.
Das deutsche Wort Heimat ist nur schwer zu übersetzen
Barski sammelt Erinnerungen wie diese, um sie auf einer Landkarte im Internet zu verlinken. Rote Punkte wie Brotkrumen auf der Suche nach Identität. In seinem provisorischen Büro hat Barski eine Deutschlandkarte aufgehängt. Seine Heimat? „Die Frage nach der Heimat ist wohl die schwierigste, die sie einem Migranten stellen können“, sagt der 59-Jährige.
Vielleicht auch deshalb, weil sich dieses urdeutsche Wort, politisch so oft missbraucht, nur schwer in andere Sprachen übersetzen lässt. Auch das Polnische kennt keine direkte Übersetzung für Heimat. Es gibt ein Wort für Vaterland, ojczyzna, eines für Zuhause, dom, aber kein eigenes für Heimat, dieses diffuse Gefühl eines Ankommens.
In Gelsenkirchen sagt Roman Szklarski: „Wenn ich von Polen nach Deutschland fahre, mache ich mich auf den Heimweg.“ Lange habe er gedacht, zehn Jahre bleiben wir, dann geht es zurück, ich bin nur Gast. Tagsüber arbeiteten die Szklarskis für den gemeinsamen Betrieb, der Töpfe in Tausende deutsche Haushalte vertrieb. Zu Hause sprachen sie mit dem Sohn Polnisch und sangen abends polnische Lieder. Eine schwere Krankheit habe den Blick geändert. Heute organisiert Roman Szklarski zwar wieder Veranstaltungen auf Polnisch – doch Deutschland sei sein Zuhause.
Sein Sohn Arek, der seit 29 Jahren in Deutschland lebt, heute selbst Vater zweier Söhne ist und als selbstständiger Elektrotechniker arbeitet, sieht das anders: „Wenn ich im Haus meiner Familie in Polen bin, dann bin ich zu Hause.“ Schon in der Schule und auch später bei der Bundeswehr sei er immer der Pole gewesen, sagt er. „Hier war ich der Pole und wenn wir nach der Wende in Polen waren, dann war ich der Deutsche.“ Hat ihn das gestört? Er zuckt mit den Achseln und lacht dabei, wie er es oft im Gespräch tut. Er verstehe manchmal selbst nicht genau, was er denn nun sei, sagt er. „Man war bei der Ausreise so klein, das hat einem ein bisschen was von beidem geraubt. Deshalb ist man irgendwie so ein Mischmasch.“ Achselzucken.
Sein Sohn sieht es wieder anders: „An mir ist nichts polnisch, vielleicht nur, dass ich Landschaften gerne mag“, sagt der elfjährige Noel.
Volle Kirchen früh morgens um acht
In Essen sagt Bozena Dymecki: „Heimat trägt man im Herzen. Aber manchmal ist dieses Herz geteilt.“
Die Glocken der Kirche St. Clemens Maria Hofbauer in Essen-Altendorf läuten, drinnen senken Hunderte Gläubige den Blick zum Gebet. Am Sprechrhythmus erkennt man, dass die polnischen Worte ein „Vater unser“ formen, das hier lauter hallt. Während in deutschen Kirchen die Bänke außerhalb von Feiertagen oft verwaist sind, kommen an manchen Tagen bis zu 1200 Besucher zu den polnischen Messen in Dortmund, Bochum oder eben Essen: Ob am Freitagabend oder Samstag um 8 Uhr, in den Reihen knien Junge wie Alte, viele Familien mit Kindern. Nach der Messe gibt es Firmungsunterricht auf Polnisch oder ein Frühstück, lange Tische mit geschmierten Brötchen. Die Großeltern basteln für die Jugendarbeit. In der Kaffeeküche erzählen Mütter, dass sie nicht nur wegen der Sprache herkommen. „Deutsche Messen sind irgendwie anders.“
Bozena Dymecki erinnert sich, Kirche und Sprachschule, das seien die ersten Anlaufstellen für Aussiedler gewesen. „Da lernte man Leute kennen“. Auch sie habe so Gleichgesinnte gefunden, mit denen sie sich abends in Wohnungen zu polnischer Poesie traf, nicht heimlich, betont sie, aber doch zunächst versteckt. Daraus entstand erst 1994 der Kulturverein Piast, zu dem heute eine polnische Schule, eine polnische Bibliothek und eben öffentliche Feiern wie jene in Katernberg gehören. „Immer mehr Familien haben nach solchen Dingen gefragt“, sagt Dymecki und legt ihr freundliches Gesicht in Falten. „Wir waren hier angekommen, hatten Arbeit, wollten aber das Polnische nicht vergessen.“
Piast ist heute Teil eines für Außenstehende kaum sichtbaren Netzes im Ruhrgebiet geworden. Es gibt Zeitungen auf Polnisch, polnische Fußballmannschaften, Agenturen organisieren polnische Partys. Dieses Netz haben Aussiedler der 80er-Jahre geknüpft, erst ihre Kinder aber haben es möglich gemacht. Wie Arek Szklarski und seine Frau Maja, die in Polen geboren, aber in Deutschland aufgewachsen sind. Die in der zweiten Sprache und Nationalität auch die Chance auf ein alternatives Leben sehen. Die ihren in Deutschland geborenen Söhnen Polnisch beibringen, weil sie Deutsch in der Kita lernen. Die sich aber ärgern, wenn die Erzieherin im Fragebogen ankreuzt, dass die Jungs Migrationshintergrund haben. Die sich nicht entscheiden wollen.
Hauptstadt zweier Welten
Dieser Welt aus zwei Welten ist das „Danziger“ eine Art Hauptstadt, oder besser das „Gdanska“. Den Namen trägt seit über 17 Jahren ein Oberhausener Kultur-Restaurant, das polnisch ist, sich aber vor allem um deutsch-polnische Verständigung verdient macht.
Das Gdanska öffnet sich dem Besucher wie ein Trichter. Der schmale Eingang ist in warmes Licht getaucht, hinter dem wuchtigen Tresen grüßen zwei junge Kellner in zwei Sprachen. Man versteht sie trotzdem kaum. Dutzende Gäste tummeln sich auf den Barhockern und beugen sich über polnisches Essen, stadtbekannte Gesichter und immer irgendein alter Bekannter. Am Ecktresen vorbei schwappt ihr Stimmgewirr in ein, zwei, drei große Räume. Heinrich Heine blickt von der Wand, deren rote Farbe über und über mit Kunst bedeckt ist: Gemaltes und Gezeichnetes, Schallplatten und Instrumente.
Die Farbe findet sich in Brille und Schal von Maria und Czeslaw Golebiewski wieder. 2000 hat das Paar das Gdanska eröffnet. „Es musste etwas her, das die Kulturen der Deutschen und Polen verbindet“, fanden die Golebiewskis damals. Sie luden polnische Autoren und Maler ebenso ein wie Helge Schneider oder Musiker aus der Stadt. Jazzreihen fanden im Gdanska ihre Heimat, im angeschlossenen Theater werden heute deutsche Kleinkunst und polnisches Kindertheater gespielt. Und auf dem Platz vor dem Restaurant kommen Hunderte zusammen, wenn ein Straßentheater zu Gast ist, das wortlos Kunst macht und von allen verstanden wird.
Darin sehe sie auch ihre Rolle, sagt Maria Golebiewski: „Wer wie wir an zwei Orten zu Hause ist, der ist wie eine Brücke“, sagt die 63-Jährige. Und erzählt, wie sie der Bundespräsident zum Bürgerfest einlud. „Wir waren da umgeben von all den Leuten, die sich für diese Gesellschaft einsetzen. Da fühlte ich mich angekommen.“
In Gelsenkirchen stehen Roman und Grazyna Szklarski an der Wohnungstür. Zum Abschied erzählen sie von den neuen Nachbarn. Eine nette syrische Familie sei eingezogen, zudem eine Roma und zwei junge Männer aus Eritrea. Man spreche vielleicht nicht die gleiche Sprache, aber verstehe sich irgendwie, sagt Roman Szklarski. Und dass er versuche, den Neuen jetzt die Dinge zu erklären, die er selbst vor 30 Jahren in Deutschland gelernt habe. Dazu gehöre auch, abends bei den Nachbarn mal anzuklopfen, wenn die Musik zu laut ist. „Um 22 Uhr gilt bei uns Nachtruhe.“