Essen/Gelsenkirchen. . Die Mediziner stöhnen über gestiegene Belastungen in den Praxen. Ohne Änderungen in der Bedarfsplanung drohe ein Versorgungsengpass.

Mittwochvormittag in einer Kinderarztpraxis mitten im Ruhrgebiet: Auf der Suche nach einem Impftermin für den kleinen Luis blättert eine Arzthelferin im Kalender.

Fündig wird sie in dem vollgeschriebenen Block erst nach sechs Doppelseiten, davor ist nichts zu machen. Hastig füllt sie mit der rechten Hand das fällige Erinnerungskärtchen für den Termin in zwölf Tagen aus, während sie mit der linken Hand schon zum Telefon greift, das schon seit 30 Sekunden klingelt. Der nächste akute Krankheitsfall kündigt sich an, der heute noch dazwischen geschoben werden muss.

Wartezeiten von bis zu zwei Stunden

„Heute ist es noch vergleichsweise ruhig“, sagt die Angestellte, als sie sich danach kurz in ihrem Stuhl zurücklehnt, „an normalen Tagen stehen hier während der Sprechzeiten durchgehend Patienten am Empfang.“ Wer dann ohne Termin in die Praxis kommt, muss schon mal bis zu zwei Stunden auf eine Behandlung warten. Das sorgt für Frust bei vielen Eltern, aber auch bei Ärzten und Personal.

Versorgungsengpass droht

Grund genug für den Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) Alarm zu schlagen. Ohne ein Eingreifen der Politik drohe ein Versorgungsengpass in der Kindermedizin, warnt der Verband. Denn die Probleme, vor denen viele Kinderärzte stehen, sind vielschichtig, wie Edwin Ackermann vom BVKJ-Landesverband Nordrhein erklärt.

Vor allem die Arbeitsbelastung sei in den vergangenen Jahren gestiegen: „Auf die Kollegen sind in letzter Zeit zusätzliche Aufgaben zugekommen, etwa mehr Vorsorge- und Impftermine. Außerdem werden chronische Erkrankungen heute intensiver behandelt als früher.“

50 Stunden und mehr in der Praxis

Demgegenüber stehen ein in die Jahre gekommenes Kollegium und eine Wandlung des Berufsbilds bei Nachwuchsärzten. „In den kommenden fünf Jahren werden rund 25 Prozent der Kinderärzte in den Ruhestand gehen“, rechnet Ackermann vor und ergänzt: „Gleichzeitig sind immer weniger Berufseinsteiger bereit, 50 Stunden oder mehr in der Praxis zu stehen. Das Interesse an Teilzeit hat deutlich zugenommen.“

Laut Planung ist Ruhrgebiet überversorgt

Es brauche in Zukunft also deutlich mehr Nachwuchs um die auftretenden Lücken zu schließen, beklagt der Verband. Lücken, die es laut gesetzlicher Planung eigentlich gar nicht geben dürfte. Denn laut der gesetzlichen Bedarfsplanung ist das Ruhrgebiet flächendeckend überversorgt mit Kinderärzten.

Für Christof Rupieper, Kinderarzt aus Gelsenkirchen, fast schon ein Schlag ins Gesicht. „Diese Daten sind längst von der Realität überholt“, klagt er, „gerade im Gelsenkirchener Süden ist es eine Katastrophe, hier gibt es einen großen Bedarf an Kinderärzten.“

„Wir stehen unter Dauerdruck“

Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch in Essen ab, wie Kinderärztin Christiane Möhlmann berichtet: „Wir stehen unter einem Dauerdruck. Rund 80 Prozent meiner Kollegen arbeiten bereits am Limit oder drüber.“ Allein in ihrer Praxis in Holsterhausen sei der Leistungsumfang in den vergangenen Jahren spürbar gestiegen, so Möhlmann.

Für die Medizinerin ist das bundesweite Problem im Ruhrgebiet durch die hohen Flüchtlingszahlen und andere Familien mit Migrationshintergrund in der Region nochmals deutlich zugespitzter: „Durch die Vielsprachigkeit entstehen Verständigungsprobleme, die sehr zeitintensiv sind.“

Erste Mediziner lehnen Patienten ab

Wozu eine Unterversorgung führen kann, zeigte sich in Duisburg. Dort habe es vereinzelt Praxen gegeben, die Patienten abweisen mussten, erzählt Markus Schäfer, Kinderarzt aus Rheinhausen. „Eine wohnortnahe Versorgung kann so nicht mehr überall gewährleistet werden“, beschreibt er und ergänzt, „dies ist aber glücklicherweise derzeit kein flächendeckendes Problem.“

Dennoch bestünde die Gefahr, dass sich die Situation in Duisburg in Zukunft weiter verschärft. Denn ob sich Nachfolger für alteingesessene Praxen im Duisburger Norden finden lassen, sei mehr als ungewiss, befürchtet der Kinderarzt.

Dies habe, davon ist sein Gelsenkirchener Kollege Christof Rupieper überzeugt, vor allem mit dem schlechten Image vieler Ruhrgebietsstädte zu tun: „Es gibt Ärzte, die lieber in Münster arbeitslos sind, statt in Gelsenkirchen zu arbeiten.“

Aktualisierung des Bedarfsplans sei notwendig

Für den Berufsverband steht derweil fest, dass eine Aktualisierung des Bedarfsplans dringend notwendig ist. Dieser müsse den gestiegenen Betreuungsaufwand und die veränderte Bevölkerungsstruktur berücksichtigen, mahnt der Verband. Ob sich diese Forderungen in einem zukünftigen Bedarfsplan wiederfinden, ist derzeit allerdings noch offen. Von Seiten der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein heißt es, dass der Plan derzeit auf Bundesebene überarbeitet wird.

>>>Die gesetzliche Bedarfsplanung

Die Bedarfsplanung des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) soll eine ausgewogene ärztliche Versorgung aller Bundesbürger sichern. Die Städte des Ruhrgebiets bilden einzelne Planungsbereiche, stadtteilbezogene Planungen gibt es nicht. Die kinderärztliche Versorgung gilt als Facharzt-Versorgung.

Der G-BA ist das oberste Beschlussgremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen.