Berlin/Altena. Die Messerattacke auf den Bürgermeister von Altena löst eine Schockwelle aus. Doch die Bedrohung von Kommunalpolitikern ist nicht neu.

Eine fünf* Zentimeter lange Schnittwunde am Hals, aber keine Lebensgefahr – Andreas Hollstein, der Bürgermeister von Altena, ist offenbar nur knapp einer schwereren Verletzung entgangen.

Die Messerattacke auf den Christdemokraten wirft erneut ein Schlaglicht auf ein Phänomen, das schon seit längerem zu beobachten ist: Drohungen und Gewalt gegen Politiker – vor allem, aber nicht nur auf kommunaler Ebene. Ein Überblick über die drastischsten Fälle.

Morddrohungen und Hass-E-Mails

• Tatort Bocholt: Im Herbst 2016 sagt der SPD-Vorsitzende von Bocholt in NRW, Thomas Purwin, den Parteitag des Stadtverbands ab und tritt zurück. Zuvor waren bei ihm per E-Mail Morddrohungen gegen ihn und seine Familie eingegangen. Der 36-Jährige, der in Bocholt das Standesamt leitet, muss sich seit Jahren immer wieder fremden- und judenfeindliche Beschimpfungen per E-Mail und bei Facebook gefallen lassen. „Auch der Bürgermeister und Kämmerer in Bocholt erhalten seit Beginn der Flüchtlingskrise diese üblen Beschimpfungen“, sagte Purwin.

• Tatort Tröglitz: Markus Nierth, parteiloser Bürgermeister von Tröglitz in Sachsen-Anhalt, trat im März 2015 von seinem Amt zurück, nachdem Rechtsextreme angekündigt hatten, einen Protestzug gegen Flüchtlinge vor dem Privathaus Nierths enden lassen zu wollen. Auf Facebook schrieb der siebenfache Vater: „Hätte ich meinen Kindern, die in der letzten Zeit schon einiges ertragen mussten, zumuten sollen, dass vor ihren Kinderzimmern bewaffnete Polizisten stehen müssen, und zudem rassistische und hasserfüllte Parolen bis dorthin dringen?“

„Ein Attentat verändert das Leben“

• Tatort Köln: Im Oktober 2015 wurde die damalige Kölner Oberbürgermeister-Kandidatin Henriette Reker bei einem Wahlkampfauftritt von einem Rechtsextremisten mit einem Messer angegriffen und lebensgefährlich verletzt. Heute ist Reker Oberbürgermeisterin von Köln. Nach dem Anschlag von Altena am Montagabend sagte sie: „Ein solches Attentat verändert das Leben, aber es darf nicht unser Verhalten ändern.“

• Tatort Stuttgart: Der Stadtrat der linken SÖS-Liste, Luigi Pantisano, erhält im Januar 2017 Morddrohungen per E-Mail – nicht zum erstenmal, wie er berichtet. „Ich könne mir den Ort selbst aussuchen“, schilderte der Stadtrat Auszüge aus dem Eintrag, der per Facebook bei ihm ankam. Zuvor hatten Unbekannte Pantisanos Facebook-Account gefälscht und unter seinem Namen Drohungen gegen die Bundesregierung auf der Seite der CDU-Bundestagsfraktion verbreitet.

Auto von SPD-Politikerin angezündet

• Tatort Berlin: Unbekannte zerstechen im Oktober 2017 die Reifen des Autos des Berliner AfD-Fraktionschefs Georg Pazderski. Auch die Scheiben des Fahrzeugs werden eingeschlagen. Pazderski berichtet zudem, Gasflaschen und Pflastersteine seien gegen sein Haus geworfen worden.

• Tatort Herne: Im August dieses Jahres gingen am Wohnhaus der Bundestagsabgeordneten Michelle Müntefering (SPD) in Herne zwei Autos der Politikerin in Flammen auf: neben einem Wahlkampffahrzeug der SPD auch der Privatwagen der Bundestagsabgeordneten. Die Polizei geht von gezielten Brandanschlägen aus. Zuvor waren in Herne bereits zwei Wahlkampffahrzeuge des CDU-Landtagskandidaten Sven Rickert ausgebrannt. Auch in diesen Fällen geht der Staatsschutz von Brandstiftung aus.

Jeder Fünfte berichtet von Einschüchterungen

Die Liste der Fälle von Bedrohungen gegen Politiker ließe sich fortsetzen. Als der Städte- und Gemeindebund im Herbst vorigen Jahres bei Bürgermeistern im Lande nachfragte, ob sie oder Kollegen in den Rathäusern beschimpft oder beleidigt worden seien, konnte fast jeder Zweite von solchen Erfahrungen berichten. Jeder Fünfte erhielt demnach Hass-E-Mails oder wurde auf andere Art und Weise eingeschüchtert. Sechs Prozent wurden körperlich angegriffen.

Attentate auf deutsche Politiker

Immer wieder erfolgen Angriffe auf Politiker. Mal lagen politische Motive zugrunde, mal waren die Täter psychisch gestört. Zuletzt attackierte ein offenbar alkoholisierter Mann den Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein (CDU).
Immer wieder erfolgen Angriffe auf Politiker. Mal lagen politische Motive zugrunde, mal waren die Täter psychisch gestört. Zuletzt attackierte ein offenbar alkoholisierter Mann den Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein (CDU). © dpa | Bernd Thissen
Laut Behörden ist die Tat politisch motiviert gewesen. Hollstein, der bei dem Messerangriff nicht lebensgefährlich verletzt wurde, gilt als besonders liberal in der Flüchtlingspolitik.
Laut Behörden ist die Tat politisch motiviert gewesen. Hollstein, der bei dem Messerangriff nicht lebensgefährlich verletzt wurde, gilt als besonders liberal in der Flüchtlingspolitik. © imago/Metodi Popow | imago stock&people
Auch die Bürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, wird am 17. Okober 2015 mit einem Messer angegriffen. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte den Täter Frank S. später zu 14 Jahren Haft.
Auch die Bürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, wird am 17. Okober 2015 mit einem Messer angegriffen. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte den Täter Frank S. später zu 14 Jahren Haft. © imago/Future Image | Christoph Hardt
Der 45-Jährige hatte Reker (parteilos) während ihres Wahlkampfes ein Jagdmesser in den Hals gerammt.
Der 45-Jährige hatte Reker (parteilos) während ihres Wahlkampfes ein Jagdmesser in den Hals gerammt. © imago/Horst Galuschka | Horst Galuschka
Ein geistig verwirrter Mann schießt bei einer Wahlkampfveranstaltung im badischen Oppenau im Oktober 1990 auf den Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU).
Ein geistig verwirrter Mann schießt bei einer Wahlkampfveranstaltung im badischen Oppenau im Oktober 1990 auf den Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU). © imago/sepp spiegl | imago stock&people
Der CDU-Politiker sitzt seitdem querschnittsgelähmt im Rollstuhl – das Attentat überlebte er nur knapp.
Der CDU-Politiker sitzt seitdem querschnittsgelähmt im Rollstuhl – das Attentat überlebte er nur knapp. © imago/Gustavo Alabiso | imago stock&people
Zwei Tage vor der Bundestagswahl im September 2002 schlägt ein Rechtsextremist dem Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele (Grüne) an einem Berliner Wahlstand mit einem Schlagstock auf den Kopf.
Zwei Tage vor der Bundestagswahl im September 2002 schlägt ein Rechtsextremist dem Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele (Grüne) an einem Berliner Wahlstand mit einem Schlagstock auf den Kopf. © REUTERS | Tobias Schwarz
Hans-Christian Ströbele erlitt damals Verletzungen am Kopf, die Polizei konnte den Täter festnehmen.
Hans-Christian Ströbele erlitt damals Verletzungen am Kopf, die Polizei konnte den Täter festnehmen. © imago/Future Image | imago stock&people
Während einer Debatte auf einem grünen Sonderparteitag in Bielefeld wird der Außenminister Joschka Fischer im Mai 1999 mit einem Farbbeutel beworfen. Er erleidet einen Trommelfellriss.
Während einer Debatte auf einem grünen Sonderparteitag in Bielefeld wird der Außenminister Joschka Fischer im Mai 1999 mit einem Farbbeutel beworfen. Er erleidet einen Trommelfellriss. © imago | Sven Simon
Der Farbbeutel-Werfer wollte damit gegen den Kosovo-Einsatz der Nato protestieren, den die Grünen billigten.
Der Farbbeutel-Werfer wollte damit gegen den Kosovo-Einsatz der Nato protestieren, den die Grünen billigten. © imago/Mauersberger | imago stock&people
In Berlin schlagen Vermummte den Regierenden Bürgermeister Walter Momper im August 1991 mit einem Holzknüppel und sprühen ihm Reizgas ins Gesicht.
In Berlin schlagen Vermummte den Regierenden Bürgermeister Walter Momper im August 1991 mit einem Holzknüppel und sprühen ihm Reizgas ins Gesicht. © imago/Rainer Unkel | imago stock&people
Zuvor hatte Momper gemeinsam mit seiner Frau eine Ausstellung besucht. Auf dem Rückweg schlugen die Täter zu. Die Narbe auf seiner Stirn erinnert nach wie vor an die Attacke der fünf Vermummten.
Zuvor hatte Momper gemeinsam mit seiner Frau eine Ausstellung besucht. Auf dem Rückweg schlugen die Täter zu. Die Narbe auf seiner Stirn erinnert nach wie vor an die Attacke der fünf Vermummten. © imago | Christian Schroth
Ein Unbekannter greift die Parlamentarierin Angelika Beer (Grüne) in Berlin im Juni 2000 mit einem Messer an und verletzt sie am Arm.
Ein Unbekannter greift die Parlamentarierin Angelika Beer (Grüne) in Berlin im Juni 2000 mit einem Messer an und verletzt sie am Arm. © imago | Sven Simon
Sie hatte zuvor mehrere Morddrohungen erhalten. Die Drohungen stammten vor allem aus der linksextremen Szene, weil Beer den Nato-Angriffen auf Jugoslawien zugestimmt hatte.
Sie hatte zuvor mehrere Morddrohungen erhalten. Die Drohungen stammten vor allem aus der linksextremen Szene, weil Beer den Nato-Angriffen auf Jugoslawien zugestimmt hatte. © imago/Christian Ditsch | imago stock&people
Eine geistig verwirrte Frau verletzt den Hamburger Justizsenator Roger Kusch (CDU) bei einem Wahlkampfauftritt im Februar 2004 mit einem Messer.
Eine geistig verwirrte Frau verletzt den Hamburger Justizsenator Roger Kusch (CDU) bei einem Wahlkampfauftritt im Februar 2004 mit einem Messer. © imago stock&people | imago stock&people
Die Frau ging mit den Worten „Du schwule Sau“ auf den Politiker zu und griff ihn mit einem Klappmesser an. Später kam sie in die Psychiatrie.
Die Frau ging mit den Worten „Du schwule Sau“ auf den Politiker zu und griff ihn mit einem Klappmesser an. Später kam sie in die Psychiatrie. © imago | Sven Simon
Eine ebenfalls geistig verwirrte Frau greift den damaligen saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine und Kanzlerkandidaten (damals SPD) im April 1990 auf einer Wahlkampfveranstaltung in Köln mit einem Messer an.
Eine ebenfalls geistig verwirrte Frau greift den damaligen saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine und Kanzlerkandidaten (damals SPD) im April 1990 auf einer Wahlkampfveranstaltung in Köln mit einem Messer an. © imago/Becker&Bredel | BeckerBredel
Sie verletzt ihn lebensgefährlich und verfehlte die Halsschlagader nur knapp. Mehr als 25 Jahre später ist die Attentäterin Adelheid S. wieder aus der Psychiatrie entlassen und auf freiem Fuß.
Sie verletzt ihn lebensgefährlich und verfehlte die Halsschlagader nur knapp. Mehr als 25 Jahre später ist die Attentäterin Adelheid S. wieder aus der Psychiatrie entlassen und auf freiem Fuß. © dpa Picture-Alliance / DB
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Die Täter werden oft nicht ermittelt. Mal werden sie im xetrem rechten, mal im extrem linken Lager vermutet. Klar ist: Das Internet und dort vor allem die sozialen Netzwerke wie Facebook hat die Hemmschwelle für Drohungen gesenkt. Es eröffnet die Möglichkeit, anonym Politiker einzuschüchtern.

Immer weniger engagieren sich

Die Folgedieser Entwicklung: Parteien haben immer öfter Probleme engagierte Bürger zu finden, die einen Job in der Kommunalpolitik übernehmen wolle. „Wenn flächendeckend Kommunalpolitiker eingeschüchtert werden, dann fragen die sich doch, ob sie sich überhaupt engagieren sollen“, konstatierte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg.

Motiv des Messerattentäters in Altena wohl Fremdenfeindlichkeit

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    Und die die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Staatsministerin Aydan Özoğuz, erklärte am Dienstag: „Gerade in den Kommunen vor Ort trifft der Hass viele Menschen, die sich politisch oder ehrenamtlich in ihrer Freizeit für Flüchtlinge einsetzen. Viele von ihnen sind den Einschüchterungen bis hin zu Bedrohungen ganz alleine und ungeschützt ausgesetzt.“ Politik und Zivilgesellschaft müssten sich deshalb „stärker schützend vor Betroffene stellen“.

    *) In einer früheren Version dieses Texte haben wir von einer 15 Zentimeter langen Wunde berichtet. Die Polizei hat ihre Angaben inzwischen korrigiert. Demnach hat die Wunde eine Länge von fünf Zentimetern.