Banjul. Gambia ist eins der ärmsten Länder der Welt. Viele Menschen wollen nach Europa, um ihre Familien zu unterstützen. Die Flucht endet oft in Libyen.

Im europäischen Winter, um kurz nach 14 Uhr, klettern die Temperaturen auf über 40 Grad in Westafrika. 300 Kilometer östlich von Banjul, der Hauptstadt Gambias, ist die sandige Dorfstraße menschenleer. Vor vielen der Hütten mit Wellblechdächern spielen nur vereinzelt Kinder im Sand. Bei einigen schimmert das krause Haar rötlich, ein Zeichen von Unterernährung. Frauen waschen mit Kernseife und Waschbrett im Schatten der Hütten oder bereiten eine karge Mahlzeit zu. Wenige Minuten später kommen ein paar ältere Männer und Frauen. Beim Mittagsgebet in der Moschee hat es sich herumgesprochen; es sind Besucher im Dorf, aus Deutschland.

Strom und fließendes Wasser gibt es in dem Dorf nicht. Ein Junge wäscht seine Kleidung mit Kernseife.
Strom und fließendes Wasser gibt es in dem Dorf nicht. Ein Junge wäscht seine Kleidung mit Kernseife. © Hanna Lohmann

Kaum etwas ist in der westafrikanischen Kultur so wichtig wie das Grüßen. Minutenlang kann sich das Erkundigen nach der Familie hinziehen. Kortanante, wie geht es? Sumo-lee, wo sind deine Leute? Traditionell gibt es in der Sprache und Kultur der Mandinka (vielen aus Alex Haleys ‘Roots’ ein Begriff) zwei Antworten auf die Frage, wo jemand ist: zu Hause oder im Reisfeld.

Nicht mehr zur Hause oder im Reisfeld, sondern unterwegs nach Europa

Heute bekommt man oft eine dritte Antwort zu hören: „A tata Toubabulu“ – „Er ist ins Land der Weißen gegangen.“ Das ist die wörtliche Übersetzung aus der lokalen Sprache und meint Europa, egal welches Land, nicht Afrika. Es scheint für viele Gambier der einzige Ausweg aus der Armut.

Hauptsächlich sind es junge Männer, die gehen. Wie hier in dem kleinen Dorf, fernab von den Atlantikstränden, wo es immerhin ein paar Jobs im Tourismus gibt. Fast jede Familie hat hier eine Flucht-Geschichte zu erzählen. Die Reise durch die Wüste ist lang und gefährlich. Wer es bis Libyen schafft, den schnappen oft Häscher, noch bevor die gefährliche Überfahrt über das Meer losgeht.

Das Dorf ist leer: Eine ganze Generation junger Leute fehlt.
Das Dorf ist leer: Eine ganze Generation junger Leute fehlt. © Hanna Lohmann

Vermutlich ist das auch Abdou passiert. Fast noch ein Kind ist er, die Schule hatte er noch nicht beendet, da machte er sich auf, rief die Familie erst aus Mali an. Er müsse es versuchen, die Familie unterstützen; Europa, irgendwie, egal wie.

Große Angst vor Entführern in Libyen

Monatelang hat die Familie nun nichts von ihm gehört. Seit er in Libyen angekommen ist, bleiben die Anrufe aus. Wenn er nicht im Mittelmeer ertrunken ist, haben seine Eltern eine Ahnung, was sie erwartet: zu viele Nachbarn haben es erzählt. Nach Wochen des Bangens kommen die Anrufe, oft hören die Familien dann die Schreie der gefolterten Angehörigen im Hintergrund, immer fordern skrupellose Entführer Geld für die Freilassung. Irgendwie finden sich ein paar hundert Euro. Nachbarn, Verwandte, alle schmeißen zusammen, die Großfamilie hat einen hohen Stellenwert. Sie sammeln Geld, das dann im Dorf fehlt.

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Abdou sah keine Perspektive. Reis, Erdnüsse und Gemüse werden in Gambia angebaut. Zwischen Juni und November regnet es, häufig so heftig, dass es zu Überschwemmungen kommt. Der Rest des Jahres ist trocken und heiß. Um in diesen Monaten die Felder der Dorfbewohner zu bewässern, gibt es ein Pumpensystem, das Wasser aus dem nahen Fluss zieht. Bis Mitte des Jahres. Da hat jemand den Generator gestohlen, nun kann außerhalb der Regenzeit nichts mehr angebaut werden.

Das System ist da, nur Wasser fließt keines: Der Generator, der das Wasser für die Felder gepumpt hat, wurde gestohlen.
Das System ist da, nur Wasser fließt keines: Der Generator, der das Wasser für die Felder gepumpt hat, wurde gestohlen. © Hanna Lohmann

80 Euro sind ein gutes Monatsgehalt in Gambia

Abdous Bruder arbeitet in einem Krankenhaus. Mit Zulagen kommt er auf knapp 80 Euro im Monat. Davon ernährt er fünf Kinder, seine Eltern, Geschwister, die keine Arbeit haben. Ein Cousin arbeitet an der Küste. Sechs Monate im Jahr kommen Touristen, entfliehen für wenige hundert Euro dem europäischen Winter. Neben ein paar Devisen lassen sie das Gefühl zurück, auch gerne ein Teil des Wohlstandskuchens abhaben zu wollen. In den Monaten, in denen es regnet oder den Urlaubern zu heiß ist, verliert der Cousin seinen Job. Dann hat er Zeit von Europa zu träumen.

Wer mit Touristen gearbeitet hat, träumt von Europa – und hat wenig Lust auf traditionelle Fortbewegungsmittel.
Wer mit Touristen gearbeitet hat, träumt von Europa – und hat wenig Lust auf traditionelle Fortbewegungsmittel. © Hanna Lohmann

Die Erwartungen, die auf denen lasten, die es geschafft haben, sind gigantisch. Das Prinzip Großfamilie, das greift, wenn Geld für die große Reise gesammelt wird, erwartet im Gegenzug Unterstützung in der Not.

Wer 50 Euro überweist, schickt ein Monatseinkommen in die Heimat. In Europa können Flüchtlinge mehr Geld abzwacken, als jemand in Gambia verdienen kann, der einen guten Job hat. Auch, wenn die Chance auf Asyl gering ist. Die Entscheidungen dauern oft Jahre und nur vereinzelt werden Gambier abgeschoben; das Land hat kein großes Interesse an den Heimkehrern. Das könnte daran liegen, dass das Geld, dass Auslandsgambier in die Heimat schicken, einen wesentlichen Teil des Bruttoinlandproduktes ausmacht.

Strom gibt es in dem Dorf nicht. An einer alten LKW-Batterie laden die Menschen billige China-Handys.
Strom gibt es in dem Dorf nicht. An einer alten LKW-Batterie laden die Menschen billige China-Handys. © Hanna Lohmann

Beten, dass der Sohn zurück kommt

„Ich wollte nicht, dass Abdou geht,“ sagt der Vater. Und: „Ich bete, dass er zurück kommt.“ Doch die Kinder sind seine Altersabsicherung. Irgendwo muss Geld herkommen. Und wenn Abdou noch lebt, wenn er irgendwann frei kommt, wenn er es über das Meer nach Italien oder Deutschland schafft, ja dann wird er mit seinem ersten Taschengeld im Flüchtlingsheim mehr Geld in der Hand halten, als er je zu vor besessen hat. Und wenn jemanden seinen Vater fragt: Abdou-lee, wo ist Abdou? Wird auch er nicht ohne Stolz antworten: A tata Toubabulu. – Im Land der Weißen.

>> INFO: Viele wollen weg, nur wenige dürfen legal bleiben

  • Nach Angaben der Weltbank haben 2016 mindestens 8 000 Menschen Gambia verlassen. Andere Schätzungen liegen bei über 11 000. Bei einer Gesamtbevölkerung von zwei Millionen Menschen (von denen 60 Prozent jünger als 25 Jahre ist) heißt das: 0,4 – 0,6 Prozent Abwanderung im Jahr.
  • Das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BamF) bestätigt 5 787 Asylanträge für 2016 aus Gambia. Die Schutzquote lag bei 6,5 Prozent. Seit dem Regierungswechsel sank die Quote bereits auf 2,5 Prozent. Die BamF-Entscheider bewerten die Lage in den Herkunftsländern regelmäßig neu.

Neuer Präsident Adama Barrow: Hohe Erwartungen und wenig Erfahrung

Vor einem Jahr wurde der seit über 22 Jahren amtierende Präsident Gambias Yahya Jammeh abgewählt und Adama Barrow neuer Präsident. Jammeh hatte nach der Niederlage zunächst einen Amtsübergang angekündigt, dann zweifelte er die Wahl an. Erst nachdem die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas) Druck ausübte, floh Jammeh nach Guinea. Mitgenommen hat er sein Privatvermögen, Teile der Staatskasse und führende Politiker und Soldaten. Bis heute sind Ecowas-Soldaten im Land stationiert.

Ein Jahr ist der Machtübergang zwischen Yahya Jammeh und Adama Barrow her. ECOWAS-Soldaten sind noch immer in Gambia vor Ort.
Ein Jahr ist der Machtübergang zwischen Yahya Jammeh und Adama Barrow her. ECOWAS-Soldaten sind noch immer in Gambia vor Ort. © Hanna Lohmann

Zwar feiern die Gambier die neue Demokratie. Es stimmt aber auch, dass Barrow und seine Minister kaum Erfahrung in Politik und Verwaltung haben. Dabei steht die Regierung vor großen Aufgaben: Gambia ist eins der ärmsten Länder der Welt.

Ausländische Fischer im Atlantik sorgen dafür, dass die Gambier nur wenig fangen. In der patriarchisch geprägten Gesellschaft können Männer ihre Familien nicht ernähren, werden um Anerkennung im sozialen Gefüge beraubt. Auch mit Hühnerzucht lässt sich kaum Geld verdienen: Durch Subventionen ist ein europäisches Hühnchen, das tiefgefroren um die halbe Welt gereist ist, günstiger als ein gambisches.