Essen. . In NRW-Krankenhäusern kommen auf jede Fachkraft 62 Patienten im Jahr – ein Drittel mehr als vor 25 Jahren. Interessensvertreter schlagen Alarm.

Je länger Ludger Risse über die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals in den Krankenhäusern spricht, um so düsterer werden seine Prognosen: „Wir steuern auf ein riesiges Desaster zu“, sagt der Vorsitzende des Pflegerats NRW. Das Fachpersonal in den Kliniken sei überlastet, Pfleger müssten sich um zu viele Patienten gleichzeitig kümmern, es fehle an Nachwuchs in dem für die Heilung eines Kranken so wichtigen Berufsfeld. „Wenn wir in Deutschland nicht handeln und die Pflege besser stellen, dann erleben wir eine der größten Katastrophen“, sagt der oberste Vertreter der Pflegeorganisationen in NRW.

Wie hoch die Arbeitsbelastung in der Krankenpflege ist, das zeigen aktuelle Zahlen des Bundesamts für Statistik. 2016 sind nach Angaben der Behörde rund 19,5 Millionen Patienten in den knapp 2000 Kliniken Deutschlands behandelt worden – das sind 34 Prozent mehr als noch vor 25 Jahren. Doch trotz der steigenden Fallzahlen sind keine neuen Stellen für Pflegekräfte geschaffen worden: Gab es 1991 rund 326 000 Fachkräfte auf den Stationen, sind es 2016 noch 325 000 gewesen. Rein rechnerisch hat sich jeder Krankenpfleger um 60 Patienten im Jahr gekümmert – im Vergleich zu 1991, als auf jede Pflegekraft noch 45 Patienten kamen, eine Zunahme um 34 Prozent. In NRW liegt das Verhältnis sogar bei eins zu 62.

Diskussion um gesetzliche Personalschlüssel

Auf diese Entwicklung hat die Deutsche Stiftung Patientenschutz mit Sitz in Dortmund aufmerksam gemacht. Stiftungsvorstand Eugen Brysch schlägt Alarm: „Die Pflege fährt auf der letzten Rille.“ Inzwischen sei die Hälfte der Patienten über 60 Jahre alt, jeder sechste Patient sogar älter als 80 – und damit pflegebedürftiger. Der hohe Arbeitsdruck, warnt Brysch, gehe auch zu Lasten der Patienten. Längst fehle die Zeit, wie auch Gewerkschaften betonen, für so wichtige Tätigkeiten wie das vorgeschriebene Desinfizieren der Hände vor und nach jedem Patientenkontakt.

In der Diskussion ist deshalb seit Längerem ein gesetzlich vorgeschriebener Personalschlüssel für die Pflege im Krankenhaus. Denn in Deutschland liegt es derzeit im Wesentlichen im Ermessen des Krankenhauses, wie viele Pflegkräfte es beschäftigt. Lediglich für die Intensivbetreuung von Frühgeborenen gibt es eine verbindliche Regelung, nach der für zwei Babys mindestens eine Fachkraft im Dienst sein muss. Die Übergangsfrist endet aber erst 2019.

NRW schreibt Anforderungen in der Intensivpflege fest

NRW will so lange nicht warten: Noch unter Rot-Grün hat das Land selbst personelle Anforderungen für die Krankenpflege auf Intensivstationen festgelegt. Als Erfolgsmodell bezeichnen Kritiker diese Regel aber auch nicht, denn es fehlen Fachkräfte und Kontrollen.

So haben sich die Beschäftigtenzahlen bei Pflegekräften und Ärzten sowie die Fallzahlen in Krankenhäusern entwickelt.
So haben sich die Beschäftigtenzahlen bei Pflegekräften und Ärzten sowie die Fallzahlen in Krankenhäusern entwickelt. © Miriam Fischer

Auch auf Normalpflegestationen soll es bundesweite Personaluntergrenzen geben: Mitte 2018 läuft eine Frist für Krankenhäuser und Krankenkassen ab, sich auf solche Mindeststandards zu einigen. Gelten sollen sie für Bereiche, in denen Untergrenzen aus Gründen der Patientensicherheit besonders notwendig sind – was genau das bedeutet, lässt der Gesetzgeber offen. In einer Stellungnahme zweifelt die Krankenhausgesellschaft NRW, Dachverband der rund 350 Kliniken im Land, indes an, dass Mindestpersonalgrenzen hilfreich sind. „In der Praxis können solche Vorgaben oft an Grenzen stoßen“, heißt es. Etwa weil qualifizierte Bewerber fehlen: Allein in NRW seien schätzungsweise 1000 bis 2500 Stellen nicht besetzt.

Pflegerat NRW fordert einen Systemwechsel

Auch Ludger Risse, der Pflegerat mit den düsteren Prognosen, sieht in den pauschalen Personalgrenzen kein Allheilmittel. Vielmehr brauche es einen Systemwechsel, sagt der Pflegefachwirt. Konkret kritisiert Risse das Abrechnungssystem der Krankenkassen. Sie rechnen je nach Erkrankung pro Patient eine Fallpauschale ab – Risse beklagt, dass sich dieser Betrag zu sehr nach dem medizinischen Aufwand richte und den pflegerischen vernachlässige.

„Wir brauchen Regeln, mit denen auch die Pflege bei der Behandlung eines Patienten berücksichtigt wird“, sagt Risse. Mit diesen zusätzlichen Geldern würden Kliniken in die Lage versetzt, etwa technische Hilfsmittel für die Pflege anzuschaffen, mit denen zumindest übergangsweise der Fachkräftemangel abzumildern sei: „Selbstfahrende Krankenhausbetten würden die Pfleger körperlich deutlich entlasten.“

Unterstützung erhält Risse von Eugen Brysch, dem Vorsitzenden der Dortmunder Stiftung Patientenschutz. „Es ist zynisch, dass wir heute ein System haben, in dem Ärzte Geld bringen und Pflege Geld kostet“, sagt Brysch. Er rechnet vor: Während Stellen für Pflegekräfte abgebaut wurden, sind mehr Ärzte an den Krankenhäusern eingestellt worden – allein in NRW arbeiten derzeit rund 36 400 Mediziner auf den Stationen, über 64 Prozent mehr als 1991.