Bochum. . Laut einer Ruhrgebiets-Studie wechseln Kinder aus Problem-Stadtteilen deutlich seltener aufs Gymnasium als Kinder aus bürgerlichen Vierteln.
Sie kommen übermüdet in die Schule, sind oft verspätet, haben nicht gefrühstückt und tragen auch im Winter noch ihre Sommerschuhe – viele Lehrer können solche Geschichten von ihren Schülern erzählen, vor allem dann, wenn die Schule in einem sozialen Brennpunkt liegt. Sie kommen ohne Hefte oder Pausenbrot – weil sich zu Hause niemand darum kümmert.
Manchen Kindern fehlen schlicht die einfachsten Voraussetzungen, um im Unterricht mitzukommen. Da liegt es auf der Hand, dass Kinder, die in einem solchen Milieu aufwachsen, geringere Chancen auf einen guten Schulabschluss haben. „Schulen in sozialen Brennpunkten benötigen mehr Ressourcen und mehr Unterstützung als andere“, sagt der Bochumer Sozialwissenschaftler Prof. Jörg-Peter Schräpler.
Regionalstudie blickt zurück auf 50 Jahre
Der Wissenschaftler stützt sich auf eine umfassende Studie, die erstmals untersuchte, wie es über einen Zeitraum von 50 Jahren dazu kommen konnte, dass die Bildungschancen im Ruhrgebiet so unterschiedlich verteilt sind. Dazu betrachtete das Team um Schräpler und Sebastian Jeworutzki von der Ruhr-Universität Bochum die Bevölkerungsentwicklung seit den 60er-Jahren bis heute und verglich diese mit den Schuldaten aus dem gleichen Zeitraum.
So konnten sie erstmals flächendeckend für die Region und heruntergebrochen auf einzelne Stadtquartiere die Entwicklung nachzeichnen. Aus den gewonnenen Erkenntnissen leiteten sie konkrete Handlungsempfehlungen an Schulträger, Kommunalpolitiker und Stadtplaner ab.
Nur 20 Prozent schaffen es aufs Gymnasium
Ein wichtiger Indikator für den Zusammenhang von Wohnort und Bildungserfolg ist die Übergangsquote von der Grundschule zum Gymnasium. Im Ruhrgebiet beträgt die Differenz zwischen bürgerlichen Vierteln und sozial schwachen Gebieten rein rechnerisch im Durchschnitt rund elf Prozent. „Das sagt aber nur in der Fläche etwas aus“, erläutert Jeworutzki. „In manchen Schulen im Essener Norden etwa schaffen es weniger als 20 Prozent aufs Gymnasium, während es in Schulen im begüterten Süden bis zu 85 Prozent sind.“ Ähnliche Unterschiede lassen sich in Duisburg, Dortmund oder Oberhausen feststellen. Die Frage sei, wie es zu solchen Unterschieden kommen kann, „denn erstmal sind ja alle Schüler so ziemlich gleich schlau“.
Die Ergebnisse lassen sich auf das gesamte Ruhrgebiet übertragen. Wenn Grundschulen in Bezirken liegen, deren Entwicklung im Verlauf des Strukturwandels von funktionierenden Arbeitervierteln mit beinahe Vollbeschäftigung hin zu sozial benachteiligten Bezirken erfolgte, sind die Teilhabechancen dieser Kinder deutlich geringer als etwa in „konsolidierten bürgerlichen Bezirken“, sagt Schräpler. Die klassischen Arbeiterviertel wie Duisburg-Marxloh, die Dortmunder Nordstadt oder der Essener Norden sind gekennzeichnet von Armut, hoher Arbeitslosigkeit und einem starken Migrantenanteil. Bedenklich finden die Forscher, dass über den betrachteten Zeitraum die Bezirke bei den Übergangsquoten zum Gymnasium weiter auseinander drifteten. Während also mehr Kinder aus bürgerlichen Bezirken auf die Schulform wechseln, die auf direktem Wege eine akademische Ausbildung ermöglicht, fallen Kinder aus benachteiligten Bezirken weiter zurück.
Forderung der Experten: Viertel als Ganzes stärken
Was den Effekt verstärkt: Dort, wo soziale Probleme am größten sind, leben die meisten Kinder. Mit Blick auf die Bildungs- und Lebenschancen der jungen Generation sei dies „sehr problematisch“, so die Forscher. Die gestiegene Zahl Geflüchteter könne diese Schieflage verschärfen: Sie ziehen bevorzugt in Bezirke, wo Mieten niedrig sind. Die Schulen vor Ort müssen weitere Aufgaben meistern. Sinnvoll wären also: mehr Lehrer, mehr Sozialarbeiter, bessere Gebäude.
„Das muss schon in der Kita beginnen“, sagt Schräpler. Doch allein die Schule zu fördern, reiche nicht aus. „Auch das Umfeld muss gestärkt werden, um das Bildungsgefälle zwischen bürgerlichen Vierteln und sozial benachteiligten Quartieren zu mildern.“ Politik und Verwaltung müssten auf das jeweilige Quartier zugeschnittene Lösungswege entwickeln, um das Umfeld aufzuwerten und die soziale Spaltung zu verringern, etwa durch die Entwicklung von Wohnvierteln für Familien. Schräpler: „Wir dürfen die Schulen nicht allein lassen mit den Problemen.“