Berlin. 8,9 Prozent bei der Bundestagswahl – das ist für die Grünen weniger als erhofft und mehr als befürchtet. Gut möglich, dass sie mit Union und FDP regieren und Parteichef Cem Özdemir am Kabinettstisch von Angela Merkel Platz nimmt.

8,9 Prozent bei der Bundestagswahl – das ist für die Grünen weniger als erhofft und mehr als befürchtet. Gut möglich, dass sie mit Union und FDP regieren und Parteichef Cem Özdemir am Kabinettstisch von Angela Merkel Platz nimmt.

Die AfD zieht mit 93 Abgeordneten in den neuen Bundestag ein. Wer ist schuld am Aufstieg der Partei am rechten Rand, Herr Özdemir?

Cem Özdemir: Die AfD ist nicht nur von Enttäuschten gewählt worden, die Bedenken zur Flüchtlingspolitik haben. Hinter dem Erfolg der AfD stehen auch Interessen, die unserem Land massiv schaden wollen. Das haben die Beeinflussungsversuche über Meinungsroboter im Internet gezeigt. Der russische Präsident Putin führt nichts Gutes im Schilde und freut sich bestimmt über den Einzug der AfD in den Bundestag. Wer zum autoritären Herrscher eines fremden Landes, der Wahlen in anderen Ländern beeinflussen möchte, eine höhere Loyalität hat als zu unserem Grundgesetz, ist für mich kein Patriot. Wir dürfen nicht naiv sein, wer da jetzt im Parlament sitzt. Dies sind keine etwas radikal daherredenden, frustrierten Wutbürger, sondern Rechtsradikale und Fanatiker.

So wenig Selbstkritik?

Auch ohne die AfD werden wir uns um Sicherheit und Ängste in der Gesellschaft zu kümmern haben. Und das werden wir tun.

Warum haben die Grünen das bisher versäumt?

Was die Stärkung der Polizei angeht, sind die Grünen die Partei für Recht und Ordnung. In den Bundesländern, in denen die Grünen mitregieren, sind mehr Stellen bei der Polizei geschaffen worden als in den Ländern, in denen die Union mitregiert. Selbstkritisch müssen wir uns fragen, ob es nicht klüger gewesen wäre, wenn die Grünen auch mal einen Innenminister gestellt hätten.

„Wir haben verstanden“, sagt CSU-Chef Seehofer nach dem enttäuschenden Abschneiden seiner Partei bei der Bundestagswahl – und kündigt einen Kurs „Mitte-rechts“ an. Lassen sich die Grünen darauf ein?

Ich weiß nicht, was Herr Seehofer verstanden hat. Die Zahlen zeigen doch, dass die CSU deutlich mehr verloren hat als Frau Merkel mit ihrem Kurs der Mitte. Seehofer hat die CDU von rechts angegriffen – und ist dafür bestraft worden.

Vielleicht hat die CSU auch verloren, weil die Leute ahnen, dass sie die Obergrenze für Flüchtlinge nicht durchsetzen kann.

Seehofer hat das Signal gesendet: „Wir haben die Lage nicht im Griff, wir schaffen es nicht.“ Solche Parteien wählen die Leute nicht. Mein Ratschlag ist, dass wir uns zusammensetzen und gemeinsam analysieren, was man machen muss bei der Sicherheit.

Die CSU beharrt auf der Obergrenze, und auch die FDP zeigt Sympathie dafür. Kann das was werden mit einer Jamaika-Koalition?

Die CSU sagt sehr widersprüchliche Sachen. Der Sortierungsprozess scheint noch nicht abgeschlossen. Das ist nach einem solchen Wahlergebnis auch verständlich. Es wäre gut, wenn die Union ihre internen Auseinandersetzungen klärt, damit ernsthafte Sondierungen beginnen können. Die werden schwierig. Dafür brauchen wir Zeit. Die Welt schaut auf uns. Die viertgrößte Volkswirtschaft sollte Handlungsfähigkeit beweisen.

Fürs Protokoll: Eine Obergrenze bleibt für die Grünen ausgeschlossen?

Da gilt das Wort der Kanzlerin: Eine Obergrenze kann es nicht geben.

Jamaika stellt die Grünen vor eine Zerreißprobe. Parteilinke wie Canan Bayram, die das einzige Direktmandat für Ihre Partei holte, lehnen ein solches Bündnis rundheraus ab.

Die Grünen waren so geschlossen wie noch nie in einem Wahlkampf, und genauso gehen wir auch in Sondierungen. Dafür bin ich sehr dankbar. Der Schreck mit der AfD sitzt der Republik in den Gliedern. Das Land ist gespalten. Jetzt kommt es darauf an, dass Deutschland eine stabile Regierung bekommt. Wir werden einem kleinen Parteitag am Samstag die Aufnahme von Sondierungsgesprächen empfehlen. Wenn sich die Union sortiert hat, wollen wir sehr ernsthaft, professionell und verantwortungsvoll verhandeln – in dem Bewusstsein, dass viele auf Deutschland schauen und sich große Sorgen machen. Die Gespräche mit Union und FDP werden sehr schwer – sie sind kein „g’mäht’s Wiesle“, wie man auf gut Schwäbisch sagen würde.

Sind Neuwahlen eine Alternative zu Jamaika?

Man kann doch nicht so lange wählen lassen, bis ein Ergebnis herauskommt, das einem behagt. Ich rate allen, demütig mit diesem Resultat umzugehen und das Beste daraus zu machen. Das hat auch mit Respekt vor dem Wähler zu tun. CDU, CSU, FDP und Grüne müssen jetzt abrüsten. Der Wahlkampf ist vorbei. Niemand sollte Maximalforderungen aufstellen, die schon im Vornherein als Ausschlusskriterien verstanden werden können. Alle müssen sich einen Ruck geben. Die Grünen sind bereit, Verantwortung zu übernehmen. Aber nicht um jeden Preis. Es braucht Verhandlungen auf Augenhöhe und in gegenseitigem Respekt.