Düsseldorf. . 100 Tage nach der NRW-Wahl haben Bürger einen ersten Skandal der neuen Regierung erlebt und eine Opposition zwischen Sitzstreik und Neuanfang.
Vor knapp 100 Tagen hat NRW einen neuen Landtag gewählt. Erlebt haben die Bürger einen ersten Skandal ihrer neuen Regierung, einen AfD-Politiker, der sich verrechnet hat, und eine Opposition zwischen Sitzstreik und Neuanfang.
NRW-Ministerpräsident Armin Laschet - der Überraschungssieger
Armin Laschet, der Überraschungssieger der Landtagswahl, verkneift sich seit 100 Tagen jede öffentliche Genugtuung. Lange als zu nett und weich belächelt, ist der 56-jährige Aachener plötzlich einer der mächtigsten deutschen Politiker. Bislang verspricht er, „zuzuhören, auch wenn es weh tut“, und gibt sich demütig: „Regierung ist immer die Opposition von morgen.“ Wichtigstes Statement: Er zieht nach 18 Jahren mit der Staatskanzlei aus den gemieteten Etagen des gläsernen Büroturms „Stadttor“ zurück ins historische Landeshaus an der Rheinuferpromenade. Laschet findet: „Der Sitz des Ministerpräsidenten soll Bodenständigkeit und Bürgernähe ausstrahlen.“
Hannelore Kraft, Ex-Ministerpräsidentin (SPD) – baden gegangen und abgetaucht
Hannelore Kraft musste einen krassen Absturz verdauen. Vor wenigen Jahren noch als Anwärterin aufs Kanzleramt oder Schloss Bellevue gehandelt und erst im Februar mit sensationellen 100 Prozent zur Spitzenkandidatin gekürt, findet die 56-jährige in ihrer SPD nun nicht mehr statt. Sie schwänzte Bundes- und Landesparteitag, fand dort auch kaum mehr Erwähnung. Im Juli sah man sie als „Privatperson“ beim Loveparade-Gedenken. Die nettesten Dankesworte an sie richtete kein Genosse, sondern ihr Bezwinger Laschet im Landtag. Die mitfühlendsten fand Laschets Frau Susanne: „Ich weiß, wie schrecklich es ist, wenn man auf die Schnauze fällt und alle schauen zu.“
Landwirtschaftsministerin Christina Schulze Föcking (CDU) - der erste Skandal
Landwirtschaftsministerin Christina Schulze Föcking (CDU) sorgte für den ersten Skandal der neuen Regierung. Im Schweinemast-Betrieb ihrer Familie im Münsterland hatten Tierschützer heimlich Filmaufnahmen gemacht, die kranke Tiere mit abgebissenen Schwänzen, Geschwüren und entzündeten Wunden zeigten. Schulze Föckings Mann, der den Betrieb führt, erklärte die Bilder mit einer kurzen Phase ungewöhnlicher Krankheitsverläufe innerhalb der Mast. Das Glück der Ministerin: Die Staatsanwaltschaft leitete kein Verfahren gegen sie wegen Tierquälerei ein. Sie selbst habe sich ja in den letzten Jahren aus der Bestandsbetreuung der Tiere zurückgezogen.
Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU) – Neustart eines Haudrauf a.D.
Hendrik Wüst hat sich neu erfunden. Der heute 42-Jährige war einst als wortflinker CDU-Generalsekretär der Mann fürs Grobe des früheren Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers. Im Zuge von dessen „Sponsoren-Affäre“ musste Wüst 2010 zurücktreten. Die Landespolitik schien der Münsterländer hinter sich zu haben. Doch Laschet holte den strategisch gewieften Wüst aus dem Abklingbecken und machte ihn zum Verkehrsminister. Seither tastet Wüst sich freundlich ins Amt, musste gleich mal für mehrere Tage die marode A40-Rheinbrücke Neuenkamp sperren lassen und backt vorsorglich kleine Brötchen: „Ein staufreies Land“ werde es wohl auch mit ihm nicht geben.
Marcus Pretzell, Landesvorsitzender der AfD, – Rechenkünstler in eigener Sache
Marcus Pretzell gab die kurioseste Pressekonferenz der ersten 100 Tage. Der Vorsitzende der AfD-Fraktion rechnete minutenlang vor, warum er keinen finanziellen Vorteil daraus ziehe, neben dem neuen Landtagsmandat auch noch sein altes im Europaparlament zu behalten. Pretzell sagte schließlich genervt: „Sie können dazu schreiben, was Sie wollen. Mathe war schon immer schwierig, ich weiß.“ Die Vorsitzende des Haushalts-Kontrollausschusses im EU-Parlament, Ingeborg Gräßle (CDU), widersprach öffentlich: Die Diäten aus Düsseldorf und Brüssel würden zwar verrechnet, wegen Funktionszulagen profitiere Pretzell aber „entgegen seiner öffentlichen Beteuerungen ganz erheblich finanziell“.
Mike Groschek – Callboy der SPD
Michael Groschek, der die NRW-SPD nach der historischen Wahlpleite als Vorsitzender übernahm, lieferte die kuriosesten Zitate der ersten 100 Tage. Für den 60-jährigen Oberhausener, der sich selbst einen „Beton-Sozi“ nennt und von den Genossen nur „Mike“ gerufen wird, ist NRW nicht mehr automatisch SPD-Herzkammer: „Alles Pustekuchen und Selbstbetrug“. Die Mehrheitsfähigkeit seiner Partei soll am Tresen der „Kupferkanne“ in Rheinhausen zurückerobert werden, und zwar egal, „ob das drei oder vier Pils kostet“. Gemeinsam mit der Generalsekretärin Svenja Schulze will er sich künftig von der Parteibasis zu Haustür-Terminen buchen lassen: „wie Callgirl und Callboy“.
Yvonne Gebauer – Rendezvous mit der Realität
Die neue Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) hatte in den ersten 100 Tagen das härteste Rendezvous mit der Realität. Sie muss die drei zentralen Wahlversprechen von Schwarz-Gelb umsetzen: Ende des Inklusions-Chaos, Abwicklung des Turbo-Abiturs, Eindämmung des Unterrichtsausfalls. Gebauers „Moratorium“ gegen die weitere Schließung von Förderschulen zeigt nur begrenzte Wirkung. Eigentlich sollen kleine Förderschulen so lange weiterarbeiten können, bis Regelschulen für die Aufnahme behinderter Kinder auch wirklich gerüstet sind. Über den Weiterbetrieb entscheidet jedoch nicht das Land, sondern Kommunen, Kreise und Landschaftsverbände. Und denen fehlen schlicht Sonderpädagogen.
Verena Schäffer – Hoffnung der gebeutelten Grünen
Die Grünen wurden von der Wahlniederlage besonders gebeutelt: Die Landtagsfraktion zählt nur noch 14 Köpfe. Darunter drei abgewählte Regierungsmitglieder, ein Ex-Fraktionschef sowie vier Führungsleute, die seit mindestens zehn Jahren Pöstchen bekleiden. Eines der wenigen Gesichter der Erneuerung: Verena Schäffer, die Parlamentarische Geschäftsführerin. Die 31-Jährige aus Witten wurde 2010 als jüngste Abgeordnete in den Landtag gewählt und versteckte sich nie in grünen Wohlfühl-Ecken. Schäffer machte sich in der Innenpolitik einen Namen, gilt als fleißig und pragmatisch.
Norbert Römer, SPD-Fraktionschef – Sitzstreik beim Stühlerücken
Die NRW-SPD hat vor 100 Tagen das schlechteste Landtagswahlergebnis der Nachkriegsgeschichte eingefahren. Beim großen Stühlerücken danach blieb einer einfach sitzen: Norbert Römer, 70-jähriger Fraktionschef und seit 15 Jahren dominierende Figur im wichtigsten Parteibezirk Westliches Westfalen. Als sich niemand von den Jüngeren wie Ex-Justizminister Thomas Kutschaty traute, den machtbewussten früheren Gewerkschaftsfunktionär aufs Altenteil zu schieben, stellte sich Römer einfach noch mal zur Wahl. Das Ergebnis: Kümmerliche 67 Prozent, aber gewählt ist gewählt. Römer will angeblich nur ein Jahr des Übergangs moderieren. Aber in einem Jahr kann bekanntlich viel passieren.