Duhok. Der IS hat im Nordirak Zerstörung und traumatisierte Menschen hinterlassen. Der Wiederaufbau ist mühsam. Ein Besuch vor Ort.
Raife Janke steht umringt von 30 Kindern in einer gerade wiederaufgebauten Schule nördlich der Stadt Tal Afar. Die Schüler, zwischen acht und 14 Jahren alt, schreien durcheinander. Raife Janke muss sehr laut sprechen, damit alle sie verstehen. „Nehmt ein Blatt Papier, sucht euch eine Farbe aus und malt mit dieser Farbe ein Bild“, ruft eine Mitarbeiterin von Janke den Kindern zu. „Auf einem zweiten Papier malt bitte auch ein Bild, aber mit ganz vielen Farben!“ Dann legen die Schüler los: Sie malen Schmetterlinge, Häuser, Bäume und Gesichter. Nicht alle dieser gemalten Gesichter lachen. Manche haben nicht einmal einen Mund.
Vor drei Jahren fiel hier die Terrormiliz
ein, ihre Kämpfer wüteten mehr als ein Jahr in der Region. Wer sich nicht dem Terror unterwarf, wurde getötet oder versklavt. So war es auch in dem kleinen Dorf, in dem Raife Janke unterrichtet. Viele Massengräber in der Gegend des Sindschar-Gebirges zeugen von der Brutalität der IS-Kämpfer. Vor allem die Volksgruppe der Jesiden fiel Dutzenden Massakern zum Opfer. Hunderttausende Jesiden konnten noch fliehen.
Seit anderthalb Jahren ist der IS
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nach und nach zurückgedrängt worden. Die ersten Jesiden kommen jetzt zurück. Doch wenn sie in ihrer Heimat bleiben sollen, brauchen sie das Vertrauen, dass es einen langfristigen Frieden geben kann. Genau daran arbeitet Raife Janke in dieser Schule. Die Juristin und Projektmanagerin in der Entwicklungszusammenarbeit ist für die Welthungerhilfe (WHH) für einige Monate in den Nordirak gereist. Sie ist eine sogenannte Friedensfachkraft, hat vorher in den Philippinen und Afghanistan gearbeitet. Ihre Eltern sind Kurden, die in den 80er-Jahren nach Deutschland aus der Südost-Türkei geflohen.
Über Kilometer sieht man nur Zerstörung
Jankes Ziel klingt fast zu ambitioniert: Sie will den Jesiden, Arabern und Kurden in der Region Frieden lehren – und fängt damit bei den Kleinsten an. „Gestern“, sagt sie, „haben wir das Thema Liebe behandelt, heute Morgen war Respekt dran und jetzt geht es um Vielfalt.“ Ganz kindgerecht arbeitet sie mit Papier und Stiften. „Die Kinder sollen in einer Diskussion gemeinsam entscheiden“, sagt sie, „welche Bilder sie schöner finden, die bunten oder die einfarbigen.“ Für sie ist klar: Bunte Bilder sind schöner, das sollen die Kinder lernen. Vielfalt soll ein Gewinn sein.
Die Welthungerhilfe arbeitet in der Region mit Landkarten der Vereinten Nationen, die ebenfalls bunt sind. Jedes kleinste Dorf wird als Punkt in unterschiedlichen Farben dargestellt: Rot für ein Jesiden-Dorf, Hellblau für ein Kurden-Dorf, Lila steht für Christen, Grün für Araber. Diese Gruppen haben einander schon bekämpft, bevor der IS die Gegend terrorisierte. Wenn jetzt um einen dieser bunten Punkte ein Kreis gezeichnet ist, gilt dieses Dorf als verlassen. Wer mit dem Auto über die staubigen Straßen des Nordiraks fährt, kann diese Dörfer sehen: Eingestürzte Dächer, zerschlagene Fenster, eingefallene Wände. Dort lebt niemand mehr. Über Kilometer sieht man oft nur die Reste der Zerstörung.
Die weltgrößte Hilfsaktion der Hungerhilfe
Am
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beteiligen sich Helfer aus aller Welt. Die WHH hat hier ihre weltweit größte Hilfsaktion gestartet: Bis Ende 2018 stellt die Bundesregierung der Organisation 22,5 Millionen Euro für die Region zur Verfügung. Die rund 40 Mitarbeiter vor Ort reparieren Wasserleitungen, helfen beim Aufbau von Häusern, geben Geld an Familien, denen nichts geblieben ist. Sie gehen in Schulen und geben dort Kurse für ein friedliches Zusammenleben. Denn Frieden ist etwas, das der Nordirak kaum kennt.
Beim Wiederaufbau der Schule haben auch die Eltern der Schulkinder mitgeholfen: „Cash for Work“ heißt das Programm, bei dem Einheimische auf der Baustelle mit einem Tagessatz von umgerechnet bis zu 20 Euro entlohnt wurden. Der für den Irak zuständige Welthungerhilfe-Vertreter Mike Bonke, ein Niederländer, glaubt an das Konzept. „Die Menschen sollen hier die Möglichkeit sehen, zusammen eine Zukunft aufzubauen“, sagt er. Für Bonke ist es ganz logisch, dass sich hier der Westen engagieren muss: „Dieser Konflikt hat ganz klar Einfluss auf die ganze Welt.“ Er verweist auf die nach wie vor hohe Zahl von Flüchtlingen, die den Irak verlassen.
Frieden herstellen – und Grundbedürfnisse sichern
Damit die Hilfe bei der Bevölkerung wirklich ankommt, reist Bonke durch die Dörfer, spricht mit Muchtars, den lokalen Vorstehern, und schaut dabei immer wieder auf die Karte mit den verschiedenfarbigen Punkten. „Wir helfen allen, die Hilfe brauchen“, sagt er. Keine Volksgruppe soll bevorzugt werden.
Wie schwierig das ist, kann man bei der Verteilung von Hilfspaketen beobachten. Die Deutsche Julia Wisniewski steht mit ihrer grünen Schirmmütze der Welthungerhilfe bei 40 Grad im Schatten in der Nähe von Zumar, einem Ort nordwestlich von Mossul. Sie steht an einem Lkw, vor ihr mehr als 100 Menschen in einer Schlange. Sie warten geduldig darauf, dass Wisniewski ihre Gutscheine überprüft. Nur wer ein korrektes Ticket vorzeigt, erhält eines der Hilfspakete.
Besonders verletzlich sind Familien ohne Väter
Wisniewski erklärt: „Bei Vorabbesuchen stellen wir fest, welche Familien diese Pakete bekommen sollen, also besonders vulnerabel sind.“ Vulnerabel, also verletzlich, nennen Helfer jene Familien, in denen die Väter im Kampf gegen den IS starben. „Allein in dieser Gegend haben wir aber bisher 700 Familien helfen können“, sagt sie. Die Pakete haben einen Wert von je 260 Euro und enthalten: Decken, Matratzen, Topf-Sets, Geschirr, Solarlampen – lebensnahe Hilfe.
„Wir wollen die Menschen dazu befähigen, selbst zu entscheiden, wo sie wohnen“, erklärt Mike Bonke diese Maßnahme. Dass damit am Ende weniger Menschen den Irak in Richtung Europa verlassen, ist nicht das entscheidende Ziel der Helfer. Sie wollen einfach nur Frieden herstellen – und die Grundbedürfnisse der Menschen sichern.
Die Kurden wollen die volle Unabhängigkeit
Doch Bonke macht sich Sorgen: „Die lokalen Konflikte könnten bald wieder aufbrechen.“ Im September will der Führer der Kurden, Massud Barzani, ein Referendum im Nordirak durchführen. Die Region steht zwar schon seit 2003 unter kurdischer Selbstverwaltung, jetzt aber wollen die Kurden die vollständige Unabhängigkeit vom Irak. Verhindern wollen das nicht nur die Zentralregierung in Bagdad, sondern auch die Nachbarländer Türkei, Syrien und Iran. Auch intern sind die Kurden ideologisch zerstritten, zwischen Marxisten, Nationalisten und Islamisten.
Raife Janke hat inzwischen die Bilder mit den Kindern besprochen. Das Ergebnis hat sie bestürzt. Rund ein Drittel der Schüler mochte die einfarbigen Bilder lieber als die bunten. Ein Kind sagt: „Mit einer Farbe fühle ich mich wohler.“ Die Vielfalt, wie sie sich die internationalen Helfer im Nordirak vorstellen, ist noch eine Utopie.