Düsseldorf. FDP-Chef Christian Lindner spricht im Interview über Schwarz-Gelb in NRW und seine Vorstellungen einer liberalen Handschrift für den Bund.

Christian Lindner ist der Koalitionskünstler dieser Tage. Der FDP-Vorsitzende schmiedet Landesregierungen in Kiel und Düsseldorf und darf nebenbei sein großes Ziel nicht aus den Augen verlieren: die Rückkehr der Liberalen am 24. September in den Bundestag und eine mögliche Koalition in Berlin. Tobias Blasius sprach mit dem 38-Jährigen über das, was er unter „liberaler Handschrift“ versteht.

In NRW soll die bundesweit einzige schwarz-gelbe Regierung kommende Woche ihre Arbeit aufnehmen. Aus der traditionsreichsten Koalition der Bundesrepublik ist ein Bündnis mit Orchideenstatus geworden. Wird in Düsseldorf die schwarz-gelbe Wende eingeleitet?

Lindner: Ich warne davor, Regierungskoalitionen zu ideologischen Projekten zu überhöhen. Das Feld ist bunter geworden. Die Freien Demokraten haben in Baden-Württemberg die Oppositionsrolle einer Ampel-Koalition vorgezogen, weil es keine hinreichenden Möglichkeiten für einen Politikwechsel gab. Wir regieren in Rheinland-Pfalz mit SPD und Grünen, in Kiel demnächst mit CDU und Grünen und in NRW mit der CDU. Entscheidend für den Regierungseintritt ist allein, ob sich im Koalitionsvertrag eine deutlich liberale Handschrift wiederfindet.

In NRW stand der Koalitionsvertrag binnen drei Wochen. Was sind die drei wichtigsten Verhandlungserfolge Ihrer Partei?

Erstens: Wir nehmen Nordrhein-Westfalen die grünen Fesseln ab, die ökonomische Entwicklung, sozialen Aufstieg und Selbstverwirklichung vieler Menschen behindert haben. Zweitens: Ein Neustart in der Bildung von der Kita über die Schule bis zur Hochschule, in deren Zentrum wieder Qualität und Leistungsfreude stehen sollen. Drittens: Eine mustergültige Balance zwischen einer Stärkung des Rechtsstaats und dem Schutz der Bürgerrechte. Unser neues Modell einer Strategischen Fahndung, die verdachtsunabhängig, aber anlassbezogen ist und damit den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs entspricht, wird richtungsweisend sein. Wenn die Polizei-Gewerkschaften und die CDU mit einem Koalitionsvertrag ebenso zufrieden sind wie die Bürgerrechtler der FDP um Gerhart Baum, muss es ein guter Kompromiss sein.

Die FDP hat erstmals ihre Mitglieder per Online-Entscheid über den Koalitionsvertrag abstimmen lassen. Ist das ein Modell für den Bund?

Wir haben Pionierarbeit geleistet mit dem ersten komplett online durchgeführten Mitgliederentscheid der Parteiengeschichte. Und die große Resonanz bestätigt uns. Demokratische Prozesse müssen unter Berücksichtigung formaler Kriterien viel stärker ins digitale Zeitalter transportiert werden. Auch im Falle eines Erfolgs bei der Bundestagswahl sollte bei uns die Basis – also nicht wenige, sondern alle – über einen möglichen Koalitionsvertrag entscheiden.

Viele Versprechen des NRW-Koalitionsvertrages sind teuer. Wo bleibt der beherzte Gegenfinanzierungsvorschlag?

Es wäre nicht seriös, schon in einem Koalitionsvertrag große Goldschätze zu benennen, die es im Landeshaushalt gar nicht gibt. Wir gehen den umgekehrten Weg: Wir werden von jedem Schreibtisch des öffentlichen Dienstes aus schauen, welche Aufgaben der Staat effizienter oder gar nicht mehr bearbeiten muss. Dabei werden wir zu nennenswerten Einsparungen kommen. Zudem erwarten wir deutliche Mehreinnahmen durch einen Entfesselungsimpuls, den die Entbürokratisierung der Wirtschaft auslösen wird.

Im Bund könnte sich die Frage einer Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen stellen. Kann Kiel Vorbild sein für Berlin?

Robert Habeck in Kiel ist ein anderer Grüner als Anton Hofreiter in Berlin. Die Grünen im Bund haben sich mit Vorschlägen wie Kohle-Ausstieg und Diesel-Verbot bis 2030 bewusst für einen unrealistischen Weg entschieden, den sogar Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Kretschmann als Schwachsinn bezeichnet. Das zeigt: Für die Grünen ist der Weg zu einer Regierungsbeteiligung im Bund mit wem auch immer sehr weit.

Wie bewerten Sie es, dass die Grünen die Ehe für alle zur Bedingung für eine Koalition in Berlin gemacht haben?

Das finde ich überraschend und mutig. Damit ist die Union mit ihren Vorbehalten gegenüber einer gesellschaftspolitischen Realität allein zuhause. Auch für SPD und FDP gilt längst: Wenn Menschen füreinander Verantwortung übernehmen, sollen sie auch gleiche Rechte haben – unabhängig vom Geschlecht. Ich werde meiner Partei ebenfalls empfehlen, die Ehe für alle als Koalitionsbedingung für die Bundestagswahl festzuschreiben.