Der Streit ums Zuwanderungsgesetz überschattet den Integrationsgipfel heute in Berlin.Wie die Forderung nach Sprachkenntnissen umgesetzt werden soll, ist in der Türkei völlig unklar

INTEGRATION IN DER DISKUSSION Ankara. Seit dem frühen Morgen wartet Ayse vor dem Konsulatsgebäude der deutschen Botschaft in Ankara. Ayse kommt aus der Kleinstadt Derinkuyu, drei Autostunden südöstlich von Ankara. Nächsten Monat will die 17-Jährige nach Stuttgart umziehen. Dort leben ihre Eltern und ihr Mann Haluk. Geheiratet haben sie im Frühjahr - in der Türkei. Für die Reise nach Deutschland braucht Ayse ein Visum, dafür steht sie hier an. Vom neuen Zuwanderungsgesetz, das von nachziehenden Ehepartnern ein Mindestalter von 18 Jahren (bisher: 16) und einen deutschen Grundwortschatz verlangt, hat sie nichts gehört. "Für uns gilt das nicht", glaubt Ayses Onkel Mustafa, der als Übersetzer mitgekommen ist. Seine Nichte kann kein Wort Deutsch. Wie hätte sie es in Derinkuyu auch lernen sollen?

Viele der jungen türkischen Ehefrauen, die ihren Ehemännern nach Deutschland folgen wollen, sind in einer ganz ähnlichen Lage: Sie sprechen kein Deutsch, und sie kommen aus dem ländlichen Milieu Anatoliens, wo es weder deutschen Schulunterricht noch Sprachkurse gibt. Viele sind nur drei, vier Jahre zur Schule gegangen, manche gar nicht. Deutsche Sprachlehrer sagen, dass eine Türkin oder ein Türke im günstigsten Fall einen etwa zweimonatigen Kurs benötigt, um sich den im neuen Gesetz geforderten Grundwortschatz anzueignen - das gilt, wenn der Bewerber bereits Kenntnisse in einer anderen Fremdsprache hat. Spricht sie oder er bisher nur Türkisch, sind vier bis sechs Monate Sprachstudien zu veranschlagen. Und handelt es sich um eine Analphabetin oder einen Analphabeten, muss man nach Schätzung der Experten ein bis zwei Jahre Unterricht ansetzen. Allein die Konsularbeamten in Ankara bearbeiten pro Jahr etwa 10 000 Fälle von Ehegattennachzug. Mehrere tausend Anträge dieser Art gibt es auch bei den Konsulaten in Istanbul und Izmir. Etwa 15 bis 20 Prozent der Antragstellerinnen, so ein inoffizieller Erfahrungswert, sind Analphabeten.

Kein Wunder, dass die meisten Betroffenen noch gar nicht wissen, was auf sie zukommt. In den türkischen Medien hat das Thema, anders als bei den türkischen Verbänden in Deutschland, bisher so gut wie keine Beachtung gefunden. Die Politiker in Ankara reagierten allerdings mit Empörung auf die Verschärfung des Zuwanderungsrechts. Das Außenministerium in Ankara sieht darin "einen schweren Rückschlag für die Integrationsbemühungen". Das Gesetz, so ließ Außenminister Abdullah Gül erklären, habe "diskriminierenden Charakter" und verletze den Gleichheitsgrundsatz, weil es nur für Zuwanderer gilt, die ein Visum benötigen. Nach Meinung der Diplomaten des türkischen Außenministeriums verstößt Deutschland mit dem Gesetz gegen die UN-Menschenrechtscharta und gegen die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte.

Deutsche Diplomaten in Ankara beschäftigt dagegen die Frage, wie die neuen Bestimmungen umgesetzt werden sollen. Das ist wenige Wochen vor Inkrafttreten des Gesetzes noch völlig unklar. Wo sollen die Deutschkenntnisse der Zuwanderer geprüft werden? Wer soll die Beurteilung vornehmen? Die Konsularbeamten wären mit dieser Aufgabe sicher überfordert.

Mit dem neuen Gesetz hoffen die Regierungspolitiker in Berlin nicht zuletzt den Zuzug von zwangsweise verheirateten jungen Ehefrauen unterbinden zu können. Viele Fachleute glauben aber, dass sich diese Erwartung nicht erfüllen wird. Das "Anforderungsprofil" werde sich einfach verändern: Seien bisher die Zugehörigkeit zum richtigen Clan und die Vermögensverhältnisse ausschlaggebend für arrangierte Ehen, würden künftig eben auch rudimentäre Deutschkenntnisse dazugehören.