Düsseldorf. Michéle Marsching ist überzeugt, dass die Piraten gebraucht werden. Weil sie auf dem Schirm haben, wie sehr Digitalisierung die Welt verändert.

2013 sind sie mit 20 Abgeordneten in den NRW-Landtag eingezogen, jetzt dümpeln die Piraten bei Umfragewerten von rund zwei Prozent herum. Wie fühlt man sich als Fraktionschef auf einem sinkenden Schiff? Stephan Hermsen sprach mit Michéle Marsching.

Haben Sie sich schon bei der Agentur für Arbeit gemeldet wegen bevorstehender Arbeitslosigkeit?

Michéle Marsching: Um Gottes Willen, ich war noch nie bei der Agentur für Arbeit gemeldet.

Aber Sie wissen worauf die Frage zielt?

Michéle Marsching: Man muss sich ja heute noch nicht melden für 2027. Ich befürchte, dass wir noch eine Chance haben. (lacht) Wenn es tatsächlich nicht klappt, nehme ich mir eine Woche, um hier auszuziehen und dann werde ich gucken, wohin mein Leben läuft.

Dass die Piraten wohl nicht in den Landtag zurückkehren, macht Ihnen nicht zu schaffen?

Michéle Marsching: Nein. Die Partei ist ja nicht tot, wenn wir nicht wieder in den Landtag kommen. Die Themen, die wir haben und die Vorschläge, die wir machen, kommen von keiner anderen Partei. Die Grünen oder die FDP reklamieren zwar Digitalkompetenz, aber da ist nichts. Wir werden gebraucht. Deswegen lösen wir uns nicht auf, auch wenn wir nicht wieder in den Landtag zurückkehren. Ich sage höchstens: Auf Wiedersehen, wir kommen zurück!

Viele ihrer Mandatsträger und Mitglieder haben sich anderen Parteien angenähert oder angeschlossen. Haben Sie Verständnis dafür oder sind das Verräter?


Der Fraktionsführer der Piratenpartei des NRW-Landtags.
Der Fraktionsführer der Piratenpartei des NRW-Landtags. © Volker Hartmann

Michéle Marsching: Jeder muss seine persönliche Lebenssituation sehen. Und sehen: Wo bringt er seine politischen Ziele am besten ein? Wenn jemand sieht: Ich kann die jetzt bei der Linkspartei oder der FDP einbringen, kann ich es keinem verübeln, wenn er oder sie eine Chance sieht, woanders ein politisches Anliegen auch umzusetzen.

Woran liegt es, dass die Piraten nicht mehr da sind, wo sie vor fünf Jahren waren?

Michéle Marsching: Erstens glaube ich, dass Protestwähler so viel Wirkung erzielen wollen wie möglich und daher dieses Mal sagen: Ich wähle AfD...

Den Sprung gibt es? Von den Piraten zur AfD?

Michéle Marsching: Ich bin sicher, dass die hohen Umfragewerte für uns vor fünf Jahren daher kamen: Weil die Leute wirksam Protest ausdrücken wollen. Weil sie wollen, dass etwas komplett anders wird. Dafür geht man jetzt zur nächsten Protestpartei. Das ist jetzt die AfD, das kann in fünf Jahren die ÖDP sein.

Warum ist das, was Sie komplett anders machen wollten, nicht mehr attraktiv?

Michéle Marsching: Wir waren zu unerfahren, um zu verstehen, dass man erst Außenwahrnehmung aufbauen muss, um dann mit Themen zu kommen. Wir haben anfangs nur thematische Arbeit gemacht und vergessen, das zu kommunizieren. Verkaufen war zweitrangig, Hauptsache die Sacharbeit stimmt. Zudem hatten die meisten von uns keinerlei parlamentarische Erfahrung. Wir wussten, was wir politisch wollten, aber nicht, wie man es ins Parlament und nach draußen bringt.

Lag das an den neuen Methoden, die Sie einbringen wollten? Schwarmintelligenz? Sofort-Feedback via Internet? Haben Sie Personen und Gesichter vergessen?

Michéle Marsching: Wir wollten uns nicht von Personen abhängig machen, daher die Schwarmintelligenz. Aber wir haben vergessen, dass man jemanden präsentieren muss, der für die Sache steht. Wir wählen immer noch jedes Jahr einen neuen Vorstand. Aber wir wählen mittlerweile auch dieselben Leute wieder. Vor fünf Jahren hieß es: Ein Jahr Vorstand ist genug. Wir haben gelernt: Wir brauchen Gesichter. Wir fokussieren jetzt auch auf Personen, zum Beispiel auf mich als Spitzenkandidaten. Parlamentarische Abläufe sind relativ schnell zu erlernen, aber wie man in der Öffentlichkeit agiert, das ist nicht so einfach. Aber auch da haben wir dazugelernt.

Haben die Piraten die dunklen Seiten der Digitalisierung erfahren? Dass man sich im Netz das Leben zur Hölle machen kann?


Noch ist dies sein Arbeitsplatz und seine Bühne: Marsching im Plenarsaal des Landtags.
Noch ist dies sein Arbeitsplatz und seine Bühne: Marsching im Plenarsaal des Landtags. © Hartmann

Michéle Marsching: Wir haben eher die dunklen Seiten des Journalismus kennengelernt. Wir werden von einigen immer noch auf Sex-Tweets, Pizzakartons und Kaffeemaschinen reduziert. Inzwischen diskutieren wir doch nicht mehr über die richtige Kaffeesorte. Es hieß: Die Piraten im Netz streiten sich immer. Im Grunde haben wir nur vorgemacht, was jetzt unter „Hate Speech“ gesamtgesellschaftlich diskutiert wird. Da waren wir negativer Vorreiter.

Viele haben die Piraten vor fünf Jahren gewählt, in der Hoffnung, dass es Ihnen gelingt, das Querschnittsthema Digitalisierung auf allen Politikfelder durchzudeklinieren. Sind zumindest in den anderen Parteien Menschen wachgeworden?

Michéle Marsching: Wenige. Das ist der Grund, warum es uns weiterhin braucht und warum wir weitermachen müssen. In den anderen Parteien gibt es immer noch die Abwehrreden gegen die Digitalisierung. Aber wenn man das Thema weiterdenkt, kommt man darauf, dass demnächst qualifizierte Arbeitsplätze wegfallen durch die Digitalisierung. Statt fachkundiger Bankberater braucht man nur noch jemanden, der drei Knöpfe drückt und dann sagt. Schade, sie kriegen keinen Kredit.

Das heißt: Die Digitalisierung bedroht die Mittelschicht?

Michéle Marsching: Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen schlauer bleiben als der Computer. Also Fähigkeiten ausbilden wie Kreativität, Empathie und Emotionalität. Ich kann einen Roboter bauen, der pflegebedürftige Menschen umbettet. Aber Roboter können keine Menschen ersetzen, die einfach mal eine Hand halten und Trost spenden. Ein Computer kann nicht Emotional und Empathisch sein. Nur, wenn Menschen etwas besser können als Computer, haben sie in Zukunft einen Arbeitsplatz. Ich war im Oktober im Silicon Valley. Die überholen uns nicht, die sind schon längst weg. Da geht es um Ideen, nicht um Ingenieure. Aber es geht wenig um Menschlichkeit. Das ist der Vorteil, den wir in Europa haben: Dass es hier nicht nur heißt: Jeder ist seines Glückes Schmied. Und wenn du die falschen Entscheidungen fällst, lebst du halt auf der Straße. Wir sind hier ein sozialer Staat.

Ein Beispiel?


Inhaltlich gut, im Verkaufen der Inhalte schlecht: Darin sieht Marsching den Kern des Untergangs der Piraten.
Inhaltlich gut, im Verkaufen der Inhalte schlecht: Darin sieht Marsching den Kern des Untergangs der Piraten. © Volker Hartmann

Michéle Marsching: Nehmen Sie Uber. Hier haben die Taxifahrer das mit dem Personenbeförderungsgesetz ausgebremst. Aber die Menschen, die Uber oder AirBnB nutzen, wollen noch etwas anderes: den Kontakt mit Einheimischen, das Persönliche. Hier wird verboten, statt zu sagen: Okay, dafür gibt es einen Markt. Und wenn du, Uber, den bedienen willst, musst du dich an soziale Standards halten. Nicht wie in den USA: Ich fahr auch für einen Dollar, Hauptsache ich habe überhaupt Arbeit. Der Mindestlohn schützt keine Selbstständigen. Es entstehen viele neue Märkte mit brachialen Preiskämpfen. Da müssen wir sagen: Nein, wir wollen soziale Standards. Die Digitalisierung ist verknüpft mit der Frage: Was wird aus unserem Sozialsystem?Denn: Was möglich ist, wird gemacht. Es gibt bald 3D-Drucker, die nicht mal mehr einen Programmierer brauchen, um mir ein Duplikat dieser Kaffeetasse herzustellen. Es gibt die ersten Drucker, die Hamburger herstellen. Schmeckte ekelhaft, aber am Geschmack wird man arbeiten. Unsere Welt verändert sich radikal.

Kann man solche globalen Entwicklungen denn im Landtag NRW aufhalten?

Michéle Marsching: Es fehlt mindestens auf EU-Ebene eine gemeinsame Wirtschafts- und Digitalpolitik. Da wird im EU-Parlament viel drüber geredet. Aber dann kommt jemand wie Oettinger, der mit beiden Füßen auf der Bremse steht. Politik hat sich gewandelt von gestaltend zu reagierend. Im Grunde seit dem Mauerfall.

Reagierend auf wirtschaftlichen Druck? So wie Kanzlerin Merkel es formuliert hat mit der „marktkonformen Demokratie“?


Bald ein Fall für Ebay? Noch gibt es ein Rednerpult der Piratenfraktion im Landtag NRW.
Bald ein Fall für Ebay? Noch gibt es ein Rednerpult der Piratenfraktion im Landtag NRW. © Volker Hartmann

Michéle Marsching: Es muss natürlich umgekehrt sein: Wir brauchen einen demokratiekonformen Markt. Selbst die Unternehmer und Unternehmen produzieren ja für Menschen. Deswegen sehe ich nach anfänglicher Skepsis eigentlich keine Alternative zum bedingungslosen Grundeinkommen.

Haben Sie als Piraten gewissermaßen am Wählermarkt vorbeiproduziert?

Michéle Marsching: Wir haben höchstens am Wählermarkt vorbeikommuniziert. Wir haben jetzt gelernt unsere Inhalte besser zu kommunizieren. Wir setzen noch mehr auf die sozialen Medien und erreichen dadurch viel mehr Menschen außerhalb unserer Filterblase. So können wir fundiert Anträge diskutieren und einbringen, auch zu Themen wie Braunkohle, Tierrechte, Cannabis, sozialen Wohnungsbau. Wir gestehen uns mehr Fehler zu. Ja, wir haben Fehler gemacht. Wir sind Menschen. Menschen machen Fehler, hey – dazu stehen wir! Das kann man im digitalen Zeitalter eh nicht mehr verbergen.

>>>SOFTWAREENTWICKLER UND HISTORIKER

Michéle Marsching , ist 39 Jahre alt, stammt aus Essen und studierte Geschichte und BWL an der Universität Duisburg sowie Informatik an der Uni und der Fachhochschule Dortmund. Abschluss 2003 als IT-Professional. Bereits seit 1998 machte er sich als Softwareentwickler selbstständig und ist seit 2014 Geschäftsführer einer Vertriebsgesellschaft.

  • Seit 2009 ist er Mitglied der Piratenpartei und zog am 31. Mai 2012 in den NRW-Landtag ein, seit August 2015 ist er dort Vorsitzender der Piratenfraktion