Essen. Alois Brunner soll 130 000 Juden ermordet haben. Jetzt wird bekannt, dass er 2001 in Syrien gestorben sei. Viele Fragen bleiben offen.
Heisingen ist heute einer der wohlhabenderen Vororte von Essen mit Yachtclubs und Restaurants. Am Ufer des Baldeneysees aber erinnert noch ein altes Fördergerüst der Zeche Carl Funke an die Montangeschichte der Revierstadt. Ein paar hundert Meter weiter zieht sich die Straße Stauseebogen parallel zum Ruhrufer. Hier lebte in der Hausnummer 114 zwischen 1946 und 1953 der Kellner und Carl Funke-Kohlehauer Alois Schmaldienst.
Der Name des nur 1,70 Meter großen, dunkelhaarigen Mannes war falsch. Er hatte ihn „ausgeliehen“ von seinem Cousin. Schmaldienst hieß wirklich Alois Brunner. Über ihn hat Nazi-Jäger Simon Wiesenthal gesagt: „Wenn Eichmann den Generalstabsplan zur Judenvernichtung entworfen hat, hat Brunner ihn in die Tat umgesetzt. Sie sind ein Zweigestirn des Todes.“
Brunner war ein weltweit gesuchter Massenmörder
Brunner, Jahrgang 1912, lebt wohl nicht mehr. Angebliche Leibwächter des weltweit gesuchten Massenmörders haben jetzt einem französischen Magazin berichtet, er sei 2001 in einem Keller in der syrischen Hauptstadt Damaskus gestorben. Andere Experten halten das Todesjahr 2009 für belastbarer.
Aber widersprüchliche Angaben über den einstigen SS-Schergen, der als rechte Hand des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes arbeitete und vom Schreibtisch aus etwa 130 000 Juden aus Berlin, Wien, Paris, Nizza und Saloniki in die Gaskammern geschickt haben soll, sind für die Fahnder der Nachkriegszeit immer normal gewesen.
Bei Betriebswahl flog die falsche Identität beinahe auf
Zu viele Fragen an die Lebensgeschichte eines der größten abgetauchten NS-Verbrecher sind offen. Seine Zeit in Essen gehört dazu. Um 1950 herum wagte der Hauer Schmaldienst alias Brunner, für den Betriebsrat auf Carl Funke zu kandidieren. Dabei fiel auf, dass der Name unrichtig war. Behörden leiteten ein Verfahren wegen falscher Namensführung ein. Ohne Ergebnis. „Unklar ist, warum Brunner bis 1954 nicht gefunden und festgenommen werden konnte“, kritisierte die Linksfraktion im Bundestag noch 2015 in einer Anfrage an die Bundesregierung.
Es gibt kaum Unterlagen. Weder bei der Gewerkschaft IGBCE noch in den Bergbau-Archiven finden sich Papiere über diese Betriebsratswahl. Auch Ulf Willuhn von der Staatsanwaltschaft Köln, die seit 1984 wegen der Deportation französischer Juden mit weltweitem Haftbefehl nach Brunner fahndet, kennt in den ein Dutzend Bänden des Verfahrens keine markanten Stellen, die sich auf Brunners Jahre an der Ruhr beziehen könnten.
In Syrien soll er Bier für DAB vertrieben haben
Gerade das wäre spannend. Denn an die Zeit am Baldeneysee schließt sich ein zweiter, genauso geheimnisvoller Lebensabschnitt des gebürtigen Österreichers an. Mitte Januar 1954 sei er aus Essen „mit unbestimmtem Aufenthalt“ verzogen, heißt es in Papieren der Wiener Polizei. Tatsächlich siedelte er mit einem Umweg über Kairo nach Syrien, um dort Sauerkraut und Dortmunder Bier für die Brauerei DAB zu verkaufen. Verbindungen nach NRW blieben. Er trat gegenüber Firmen aus Dortmund und Düsseldorf als Manager einer syrischen Import-Exportfirma namens Kathar Office auf. Ein neuer Job, ein anderer Name: Jetzt war er Dr. Georg Fischer.
Eine reine Tarnorganisation? In Essen sei Brunner vom Bundesnachrichtendienst (BND) auf eine Mitarbeit angesprochen worden, hat schon vor Jahrzehnten der US-Autor Christopher Simpson ermittelt. Ein Judenmörder im Auftrag des BND? Das Thema beschäftigt den Bundestag bis heute.
Das Kanzleramt geht davon aus, dass die Historikerkommission zu möglichen NS-Verwicklungen des Auslandsgeheimdienstes mehr Klarheit bringen könnte: „Es ist nicht auszuschließen, dass im Verlauf der weiteren Erschließungsarbeiten bislang nicht bekannte Dokumente gefunden werden könnten.“ Und auch, wenn der BND eine Brunner-Akte in den 90er-Jahren vernichtet hat: Es gibt einen Vermerk des ehemaligen BND-Vize Volker Foertsch. Danach hat dieser gewusst, dass der Nazi-Scherge Brunner Mitarbeiter des Dienstes in Damaskus gewesen sei.
Sein Name wird nicht von der Fahndungsliste gelöscht
Die Kölner Staatsanwaltschaft hebt den Haftbefehl gegen Brunner trotz der aktuellen Meldungen über seinen Tod nicht auf. Sein Name bleibt erst einmal weiterhin in den Fahndungscomputern. Sprecher Ulf Willuhn: „Bei der jetzigen Lage in Syrien“ sei es unmöglich, die Todesmeldung über Alois Brunner zu verifizieren. Eine automatische Löschung könne erst in einem Alter von 110 Jahren in Frage kommen.
Brunner alias Schmaldienst alias Fischer wäre heute 105 Jahre alt. In der NS-Zeit hieß sein jüngstes Opfer Monique. Sie war erst zwei.
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Alois Brunner hat wohl auch für das syrische Regime gearbeitet. Er hat es im Kampf gegen Israel unterstützt, Foltermethoden entwickelt, Waffenkäufe organisiert. In einem späteren Interview mit einer österreichischen Zeitung sagte er: „Seien Sie froh, dass ich Wien für Sie judenfrei gemacht habe.“