Berlin. Innenminister de Maizière spricht im Interview über die Lehren aus dem Berliner Terror-Anschlag – und die Integration von Flüchtlingen.
Es sind schwere Tage für den Bundesinnenminister. Zum ersten Mal wurde Deutschland von einem größeren islamistischen Terroranschlag getroffen – und der Attentäter war ein tunesischer Asylbewerber. Vorwürfe gegen die Sicherheitsbehörden will Thomas de Maizière (CDU) nicht gelten lassen – noch nicht.
Herr Minister, welche Erkenntnisse haben Sie inzwischen über den Berlin-Attentäter? Hat der IS den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt gesteuert?
Thomas de Maizière: Es liegt ein Bekennerschreiben des sogenannten „Islamischen Staates“ vor, das die Experten für authentisch halten. Und wir haben das Bekennervideo des mutmaßlichen Täters. Es gab Verhaftungen in Tunesien, aber vor einer endgültigen Einordnung müssen wir zunächst den Abschluss der Ermittlungen abwarten, die mit Hochdruck weiterlaufen.
Glauben Sie immer noch, die Sicherheitsbehörden hätten im Fall Amri gut gearbeitet?
De Maizière: Es ist doch selbstverständlich, dass wir jetzt mit allen Beteiligten den gesamten Handlungsablauf eingehend daraufhin untersuchen, ob an irgendeiner Stelle Fehler passiert sind oder ob es an gesetzlichen Regelungen gefehlt hat. Das betrifft nicht nur die Sicherheitsbehörden, sondern auch beispielsweise die Ausländerbehörden und die Justiz.
Ich wehre mich gegen vorschnelle Schuldzuweisungen und Urteile von selbsternannten Experten, die hinterher immer alles genau wissen. Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Sicherheitsbehörden in Deutschland grundsätzlich sehr gute Arbeit machen und die Mitarbeiter mit ihrem großartigen Einsatz Tag für Tag dafür sorgen, dass wir in Deutschland in einem der sichersten Länder der Welt leben. Wir wissen ja, dass die Sicherheitsbehörden bisher schon einige Anschläge verhindert haben.
Der tunesische Asylbewerber war als Gefährder bekannt, wurde observiert, sollte abgeschoben werden. Der Anschlag hätte verhindert werden können ...
De Maizière: Das sagt sich leicht hinterher. Aber eben das ist Gegenstand der laufenden Aufarbeitung. Wo erforderlich, werden dann auch Dinge verändert.
Sehen Sie eher ein Versagen des Gesetzgebers?
De Maizière: Jedenfalls habe ich schon vor Monaten einen Gesetzentwurf erarbeitet, der eine Abschiebehaft für ausreisepflichtige Ausländer vorsieht, von denen eine Gefahr ausgeht. Und wäre Tunesien als sicheres Herkunftsland bestimmt worden, wäre der Attentäter in einer Aufnahmeeinrichtung verblieben und gar nicht erst an die Kommunen verteilt worden.
Davon unabhängig haben wir im Bund in dieser Legislaturperiode für die Sicherheit in Deutschland so viel erreicht wie viele Jahre zuvor nicht: Erheblich mehr Personal für die Sicherheitsbehörden des Bundes, schärfere Gesetze und bessere Technik.
In der letzten Sitzungswoche vor Weihnachten hat das Kabinett zum Beispiel meine Vorschläge zur Verbesserung der Videoüberwachung und zum Einsatz von Bodycams und Kennzeichenlesesystemen bei der Bundespolizei beschlossen.
Viele Menschen fragen sich: Warum werden gefährliche Personen wie Anis Amri nicht einfach eingesperrt?
De Maizière: Natürlich muss alles dafür getan werden, dass bekannte gefährliche Personen daran gehindert werden, ihre menschenverachtenden Pläne umzusetzen. Der Schutz von Leben und Gesundheit muss immer das oberste Ziel von Polizeiarbeit, der Sicherheitsbehörden und der Justiz sein.
Man kann in Deutschland nicht jeden verhaften, den man für gefährlich hält, ohne dies vor Gericht mit verwertbaren Hinweisen beweisen zu können. Aber eine Abschiebehaft für gefährliche Abzuschiebende ist dringend nötig. Ich habe sie ja bereits vorgeschlagen. Jetzt scheint auch die SPD darauf einzugehen.
http://Sind_Flüchtlinge_krimineller_als_Deutsche?{esc#209107849}[video]
Ziehen Sie weitere Lehren aus dem Terror von Berlin?
De Maizière: Vieles von dem, was hier jetzt diskutiert wird, gehört schon lange zum Forderungskatalog der Union: Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit für Doppelstaater, die für eine Terrororganisation kämpfen; Strafbarkeit schon der Sympathiewerbung für Terrororganisationen; Verschärfung von Ausreisegewahrsam und Abschiebehaft.
Was den Umgang mit Gefährdern anbetrifft, so ist dies nach geltendem Recht vor allem durch die Landesgesetzgeber zu regeln. Sicher muss die Abstimmung unter den Ländern etwa bei der Verantwortung für die Observation besser werden. Aber eine Lehre ziehe ich auch: Die Reaktion unserer Bevölkerung war großartig.
Wie groß ist die Anschlagsgefahr in Deutschland zum Jahreswechsel?
De Maizière: So hart das klingen mag: Die Anschlagsgefahr war vor dem Anschlag von Berlin hoch und ist es immer noch. Wir stehen in Deutschland ebenso wie unsere westlichen Partner im Fokus des internationalen Terrorismus. Die Zahl der Gefährder liegt bei rund 550. Davon ist rund die Hälfte in Deutschland, über 80 von diesen in Haftanstalten.
Der vergangene Jahreswechsel war von massenhaften Übergriffen auf der Kölner Domplatte geprägt. Ist ausgeschlossen, dass sich so etwas wiederholt?
De Maizière: Ich gehe davon aus, dass die Verantwortlichen vor Ort in diesem Jahr hinreichend vorgesorgt haben, dass sich die Ereignisse nicht wiederholen werden. Die Bundespolizei wird im bahnpolizeilichen Aufgabenbereich bundesweit rund 3000 Beamte einsetzen, die für Nordrhein-Westfalen zuständige Bundespolizeidirektion allein etwa 800.
Auf wichtigen Bahnhofsvorplätzen, zum Beispiel am Kölner Hauptbahnhof, werden mobile Bundespolizeiwachen als Ansprechstellen für die Bürger und Touristen eingerichtet. Im Bund haben wir nach den Übergriffen unmittelbar reagiert, das Sexualstrafrecht verschärft und vor allem die Ausweisung von kriminellen Straftätern erheblich erleichtert. Und wir haben im Bund so viele neue Stellen für die Sicherheitsbehörden geschaffen wie nie zuvor.
In Berlin hat es jetzt einen weiteren erschreckenden Vorfall gegeben. Junge Flüchtlinge sollen versucht haben, in einer U-Bahn-Station einen Obdachlosen anzuzünden. Sehen Sie die Gefahr, dass die Integrationsbemühungen scheitern?
De Maizière: Dieser abscheuliche Vorfall muss wirklich konsequent geahndet werden. Hier sieht man übrigens, wie wichtig Videoüberwachung ist. Zur Wahrheit gehört auch: Die ermittelten Tatverdächtigen waren Flüchtlinge, sogar aus Syrien. Das ändert aber nichts daran, dass die große Anzahl der zu uns Gekommenen vor Gewalt und Terror geflohen ist und beides eindeutig ablehnt.
Wir stehen bei der Integration der Menschen, die gekommen sind und die eine Bleibeperspektive haben, vor einer immensen Aufgabe, die uns alle fordert: Bund, Länder und Kommunen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Sportvereine, Schulen, Nachbarschaften, um nur einige zu nennen.
Trauer um Opfer des Anschlags von Berlin
Wie lange dauert es, bis Erfolge sichtbar sind?
De Maizière: Dieser Prozess wird viele Jahre dauern. Wir werden auch sicher Rückschläge erleben. Wenn wir darauf bestehen, dass alle sich so verhalten, dass sie unsere Grundwerte achten, die uns einen, dann bin ich davon überzeugt, dass uns das gelingt. Mit unseren Integrationskursen leisten wir einen wichtigen Beitrag.
Wir sorgen für eine Verständigung auf Deutsch, unserer gemeinsamen Sprache. Und durch den Orientierungskurs, den ich gerade im Stundenumfang fast verdoppelt habe, für eine gute gemeinsame Basis, was unsere Werte, unsere Geschichte und unsere Kultur angeht.
Diesen Weg müssen wir konsequent fortsetzen und erwarten, dass er von den hier aufgenommenen Menschen mitgegangen wird. Ab 1. Januar können zum Beispiel Asylbewerber mit guter Bleibeperspektive zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet werden.