Essen. . Eine aufrechte und streitbare Politikerin der Bonner Republik - Hildegard Hamm-Brücher ist mit 95 Jahren verstorben.

Der Wahlsonntag im September 2002 ist für Guido Westerwelle schlecht gelaufen. Er hat nicht nur sein Projekt mit dem Ziel der 18 Prozent klar verfehlt. Der FDP-Chef hat auch noch einen Brief von Hildegard Hamm-Brücher bekommen. Sie tritt nach 54 Jahren aus der Partei aus. Eine Ikone geht.

Sie war ja standhaft, konsequent – und immer fair. Die verdeckt antiisraelischen Kampagnen des Jürgen Möllemann, so hat sie es gesehen, waren ihr 2002 unerträglich geworden. „Ich schäme mich für meine Partei.“ Aber den Austrittsbrief hat sie erst nach Schließung der Wahlurnen zustellen lassen. Sie hatte den alten, aber fremd gewordenen Freunden nicht schaden wollen.

Beziehung zur FDP war nicht störungsfrei

Hildegard Hamm-Brücher ist am Mittwoch gestorben. Zuletzt hatte sie an zwei Oberschenkelhalsbrüchen und Gleichgewichtsstörungen gelitten. Die FDP verneigt sich vor ihr: „Deutschland verliert eine liberale Persönlichkeit.“ Dabei war die Beziehung der bekennenden Sozialliberalen vor allem zu den „schwarz-gelben“ Freidemokraten der letzten Jahrzehnte nie störungsfrei. In ihr höchstes Staatsamt, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, ist sie unter dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt aufgestiegen.

1982, als die eigene Parteiführung mitten in der Wahlperiode den sozialdemokratischen Koalitionspartner gegen CDU und CSU tauschte, verstand sie das als Affront gegen die demokratischen Sitten. Vor dem Bundestag hielt sie eine Rede, die vielen in Erinnerung blieb: „Ich finde“, sagte sie vor dem Plenum, „dass beide dies nicht verdient haben: Helmut Schmidt, ohne Wählervotum gestürzt zu werden, und Helmut Kohl, ohne Wählervotum zur Kanzlerschaft zu gelangen.“

Sie stand über den Alltagsgeschäften der Politik

Zwölf Jahre später nominierte die FDP Hamm-Brücher als eigene Kandidatin bei der Bundespräsidentenwahl. Doch Parteichef Klaus Kinkel zieht die Kandidatur zurück, als man im dritten Wahlgang mit der Union für deren Mann Roman Herzog stimmen will. Als „knallhart“ hat sie das verstanden. Die nächste Kränkung.

Falsch ist, die „Grande Dame“ nur als Alltagspolitikerin zu verstehen, als Urheberin des einen oder anderen Gesetzes. Dafür hatte sie zu wenig Einfluss im Bonn des Patriarchen Helmut Kohl. Sie war eine ganz andere Figur: Antifaschistin und Widerständlerin, Naturwissenschaftlerin, Sportlerin, Mahnerin in Sachen Demokratie und Vorkämpferin für Frauenrechte. Eine, die über dem politischen Alltag stand. Sie verkörpert ein Stück deutscher Nachkriegsgeschichte.

Kontakt zu den Widerständlern der Weißen Rose

Essen, 11. Mai 1921. Hier wird sie in eine wohlhabende Familie hineingeboren. Ihre Kindheit verlebt sie im Berlin der Weimarer Jahre, dann bei der Großmutter in Dresden. Früh sterben Vater und Mutter. Mit 15 erfährt die preußische Protestantin, dass sie nach den Rassengesetzen der Nazis „Halbjüdin“ ist. Sie schlägt sich in Nazi-Deutschland durch, als sich ihre jüdische Großmutter aus Furcht vor dem KZ das Leben nimmt.

Die Freunde, darunter die später hingerichtete Sophie Scholl, kommen aus dem Widerstandskreis der „Weißen Rose“ in München. „Die Gesinnung hat uns verbunden.“ Hamm-Brücher studiert hier Chemie. Die Gestapo sucht nach ihr, doch ihr Doktorvater schützt sie. Die junge Frau ist in Starnberg, als die US-Armee einmarschiert.

Theodor Heuss empfahl ihr die Politik

Nach dem Krieg wird sie Wissenschaftsjournalistin. In München arbeitet sie in dem Raum, in dem zuvor der „Völkische Beobachter“ gedruckt wurde. „Mädle, Sie müsset in die Politik“, rät ihr in dieser Zeit der Schwabe Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident. „Er war der erste, der mir etwas Positives über die Möglichkeiten der Demokratie sagte.“ Sie liebt die Freiheit, verliebt sich in den katholischen christsozialen Stadtrat Erwin Hamm, bekommt einen unehelichen Sohn von ihm und baut ein Appartementhaus für alleinerziehende berufstätige Mütter. Alles ungeheuerlich im katholischen Bayern der 50er-Jahre.

Die Karriere wird sie über den bayerischen Landtag, wo sie die Abschaffung der Konfessionsschule verlangt, und über die hessische Landesregierung bis in den Bundestag nach Bonn tragen – in Hans-Dietrich Genschers Außenamt. Mit einer Initiative stärkt sie die Rechte der Abgeordneten auf die eigene, freie Meinung. Wieder: ein urliberales Anliegen.

In den letzten Jahren wurde es stiller um sie. Nur 2010, da war sie noch mal da. Die Grünen, nicht die FDP, haben sie in die Bundesversammlung geschickt. Sie sollte den Bundespräsidenten mitwählen. Sie machte das Kreuz beim Kandidaten Gauck, nicht beim Tagessieger Wulff. Mit zwei Jahren Verspätung ist die deutsche Politik dann doch noch ihrem Votum gefolgt.