Regierungskrise spitzt sich dramatisch zu. "Notregierung" bis 2009 denkbar.Eventuelle Aufspaltung eines flämisch-wallonischen Wahlbezirks entzweit die Nation

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© AFP

Brüssel. Die belgische Politik rückt immer näher an den Abgrund. Mit der Entscheidung des parlamentarischen Innenausschusses, den umstrittenen Wahlbezirk Brüssel-Halle-Vilvoorde aufzuteilen, hat sich die Regierungskrise erneut zugespitzt. Die Luft für den flämisch-christdemokratischen Regierungsbildner Yves Leterme wird immer dünner. Der allgemein befürchtete dicke Knall - der Abbruch der Regierungsverhandlungen durch die Frankophonen - blieb allerdings vorerst aus.

Die belgische Nation konnte das Polit-Spektakel gestern unmittelbar miterleben, denn die TV-Stationen informierten am Nachmittag in Live-Sendungen aus dem Parlament.

Gleich nachdem der Ausschussvorsitzende zur Abstimmung aufgerufen hatte, kam es zum Eklat. Die frankophonen Abgeordneten verließen aus Protest den Saal, so dass die flämischen Abgeordneten unter sich blieben und für die Aufspaltung des Wahlbezirks votierten.

Der zweisprachige Wahlbezirk Brüssel-Halle-Vilvoorde, kurz BHV, ist den Flamen seit Jahren ein Dorn im Auge. Denn nicht nur in der zweisprachigen Hauptstadt, sondern auch in den 35 auf flämischem Territorium liegenden Nachbargemeinden rund um Halle und Vilvoorde können frankophone Wahlberechtigte ausnahmsweise frankophone Kandidaten wählen. Normalerweise gilt in Belgien der Grundsatz, dass in Flandern nur flämische und in der Wallonie nur frankophone Kandidaten gewählt werden.

Eine Aufspaltung des Wahlbezirks ist aus Sicht der frankophonen Wallonen eine unerträgliche Provokation. Weil Regierungsbildner Yves Leterme es nicht geschafft hat, bei den Koalitionsverhandlungen einen Kompromiss in Sachen BHV zu finden, drohten sie im Falle einer Aufspaltung damit, den Verhandlungstisch zu verlassen.

Überraschend machten sie dann einen Rückzieher. Man könne doch noch an einem Premier Leterme festhalten - allerdings nur unter der Voraussetzung, dass bis 2009 allenfalls eine Art "Not-Regierung" eingesetzt würde. Das hieße auch: Der kaum lösbare Streit über die von Leterme gewünschte Staatsreform sowie die umstrittene BHV-Aufspaltung müssten bis 2009 auf Eis gelegt werden.

Grundlage einer christdemokratisch-liberalen Koalition aus vier wallonischen und flämischen Parteien wäre dann lediglich der bereits ausgehandelte Kompromiss in wirtschaftlichen und sozialen Fragen. Mit einer "Light"-Version der orange-blauen Koalition dürfte sich Yves Leterme, der Sieger der Parlamentswahl vom 10. Juni, allerdings kaum zufrieden geben. Ließe er sich darauf ein, würden die flämischen Christdemokraten bei der Regionalwahl 2009 abgestraft. Die Föderalismusreform, die den Einfluss der Regionen auf Kosten des Bundesstaates stärken soll, zählt zu Letermes ehrgeizigsten Wahlzielen.

Die vertrackte Regierungsbildung in Belgien, sie dauert schon 152 Tage an (alter Rekord von 1988: 148 Tage), bleibt vorerst eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Je länger die Hängepartie dauert, desto größer wird - vor allem in der Hauptstadt - die Angst vor einer Spaltung des Landes. Am Sonntag findet in Brüssel ein Marsch für die Einheit des Landes statt.