Ruhrgebiet. Noch vor der Polizei kam die Presse: setzte die Entführer in Szene, die Opfer ins Bild und sich selbst ins Fluchtauto. Über einen "Sündenfall des seriösen Journalismus".

Dass es überhaupt dieses Bild gibt: der Täter, die Waffe, die Geisel. Und dann aus dem Off diese Frage, was für eine Frage! "Was fühlen Sie so, mit der Waffe am Hals?" Silke Bischoff guckt fast freundlich über das Mikrofon, es ist ihr bald so nah wie der Revolver. "Gut", sagt sie, sie habe bloß Angst, "dass jemand umgebracht wird oder so".

Als Silke erschossen wird, ist keine Kamera mehr da.

Doch ist das ein seltener Moment: in dem das Gladbecker Geiseldrama nicht live übertragen wird. Denn die Presse ist dran am Geschehen jener Tage; "hautnah" ist nicht nur ein Wort. Reporterkolonnen verfolgen die Fluchtfahrzeuge, telefonieren mit den Geiseln in der Bank, bringen sich ein als Vermittler, filmen die Kaltblütigkeit, die Angst und den Tod. Und es blieben diese Geschichten: von Szenen, die Fotografen stellen oder wiederholen lassen, bis sie sie im Kasten haben.

Journalisten handeln statt nur zu beobachten. Angesehene Reporter sind unter ihnen, von öffentlich-rechtlichen Sendern und auch von der WAZ. Oft weiß die Presse mehr als die Polizei. "Die Medien", heißt es dort heute, "haben unsere Arbeit behindert." Und Rösner und Degowski, diese beiden, lernen schnell: welche Macht sie bekommen, wenn ihnen die halbe Welt zusieht in einer Mischung aus Sensationslust und Furcht. Sie wollen nur noch "durch die Medien sprechen". So kommt es zu Interviews, zu diesen Szenen wie in Köln: wo Kollegen am Fluchtauto kleben wie Bienen. Die Täter halten Pressekonferenz. Und die Tagesthemen senden live, wie Rösner sich die Pistole zwischen die Zähne schiebt: "Ich scheiß auf mein Leben." Das Magazin "Newsweek" nennt es später: "The Hans und Dieter Show".

Medienwissenschaftler teilen die Geschichte des "rasenden Reporters" seither in zwei Teile: vor Gladbeck und danach. Nach Gladbeck gilt das Geiseldrama als "deutlichstes Beispiel für die Missachtung journalistischer Standards", als "Sündenfall des seriösen Journalismus". Kein Ethik-Seminar kommt ohne dieses Thema aus, obwohl natürlich niemand wissen kann: Wäre Gladbeck anders verlaufen ohne seine Medienpräsenz? Der Deutsche Presserat erweiterte jedenfalls seinen Kodex: "Bei der Berichterstattung über Gewalttaten", steht nun unter Ziffer 11 in den Selbstverpflichtungen, "lässt die Presse sich nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen. (. . .) Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens darf es nicht geben."

Vor Gladbeck aber war das Geschehen ohne Vorbild; was die Journalisten erlebten, hatten sie nie zuvor durchdacht. Die Wissenschaft glaubt, auch der Konkurrenzdruck habe sie getrieben; das Privatfernsehen war damals gerade vier Jahre alt. Vor allem aber wird es die Reporterseele gewesen sein. Reporter haben Jagdfieber, die beste Story zu wollen, ist ihr Beruf. Hinsehen, Schreiben, das verlangen die Redaktionen von ihnen und sie von sich selbst. Es ist Passion wie Pflichterfüllung: so zu erzählen, dass das Publikum sich fühlt, als wäre es dabei gewesen. Und es waren viele dabei damals: 13 Millionen vor den Fernsehern. Tatort in Echtzeit.

So sahen sie auch das wohl spektakulärste Mitwirken eines Journalisten: wie Udo Röbel, späterer "Bild"-Chef, zu Tätern und Geiseln ins Auto stieg, ihnen den Weg zu weisen. "Reporter des Satans", hat man ihn dafür geschimpft. Röbel selbst spricht von "journalistischem Totalversagen".

Nicht nur er hat aus Gladbeck gelernt. Heute, glaubt Lutz Tillmanns, Geschäftsführer des Presserats, arbeite die Presse "bewusster", "die verstärkte Beobachtung verhindert ein Ausscheren". Doch gibt es in Redaktionen und an Universitäten viele, die pessimistischer sind - oder realistischer. "Der Wettbewerb ist mörderisch", sagt die Leiterin der Journalistenschule Ruhr, Gabriele Bartelt-Kircher. "Der Kampf ums beste Bild würde sich dramatisch auswachsen." Der Reporter vor Ort "muss das einfach machen", bestätigt einer der Fotografen von damals gegenüber dem "Spiegel". Er glaubt, dass die Medien "heute noch weiter gehen würden, wenn sie könnten".

Sie können allerdings nicht. Denn auch die Polizei hat ihre Taktik aufgearbeitet, vor allem sie. Heute gäbe es weiträumige Absperrungen, Pressestellen sind Teil jeder Lage. So nah sollen Journalisten einem Tatort nie wieder kommen. Die Bilder von Gladbeck sollen sich nicht wiederholen.

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