Essen. In der Türkei sind führende Politiker der prokurdischen Partei HDP festgenommen worden. Experten befürchten eine Eskalation der Gewalt.

„Es ist Zeit, endlich Frieden zu schließen in der Türkei. Jahrzehnte türkisch-kurdischer Konflikte haben Zehntausende Opfer auf beiden Seiten gefordert. Damit muss Schluss sein.“ Diesen Wunsch, diese Mission formulierte der aus Duisburg stammende Ziya Pir zwei Tage nach dem historischen Einzug seiner Partei, der pro-kurdischen HDP, in das türkische Parlament (Lesen Sie hier das ganze Interview).

In der Nacht zu Freitag, nur 17 Monate nach diesem hoffnungsvollen Tag, sind Ziya Pir, die beiden Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, sowie weitere HDP-Politiker festgenommen worden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Verbreitung terroristischer Propaganda vor.

Kurdenkonflikt könnte sich auf Deutschland ausweiten

Die Welle der Inhaftierungen oppositioneller Kräfte in der Türkei, denen eine wie auch immer geartete Verbindung zu terroristischen Organisationen nachgesagt wird, erreicht damit einen neuen Höhepunkt. Türkeiexperten befürchten eine weitere Eskalation des Kurdenkonflikts, einen Bürgerkrieg, der auch Auswirkungen auf Deutschland haben kann.

„Wir können mit Blick auf die Türkei schon lange nicht mehr von einem demokratischen Staat sprechen. Die Türkei ist zu einem Unrechtsstaat geworden. Ich weise seit einigen Jahren darauf hin, dass die Türkei unter dem Erdogan-Regime in einen Bürgerkrieg schlittert“, sagt Burak Copur.

Kurdische Jugend sei schon radikalisiert

Der Politikwissenschaftler der Uni Duisburg-Essen betont, dass die Vertreter der HDP die letzte kurdische Generation sei, die zusammen mit dem türkischen Staat eine friedliche Lösung des Konflikts herbeiführen könne. „Die kurdische Jugend ist hingegen schon radikalisiert, weil sie in den Kurdengebieten Angriffen durch die Staatsmacht ausgesetzt ist. Am Freitagmorgen, nur wenige Stunden nach den Festnahmen, sind schon die ersten Bomben in Diyarbakir explodiert.“

Copur ist zutiefst besorgt und befürchtet Folgen für das Zusammenleben zwischen Kurden und Türken in Deutschland. „Auch hier ist die türkische Community sehr gespalten. Bei den Angriffen auf Gülen-nahe Institutionen im Sommer, wie etwa in Gelsenkirchen, haben wir bereits erlebt, dass auch die Anhänger Erdogans radikalisiert sind.“

„Einzige prokurdische Stimme zum Schweigen gebracht“

Auch Ismail Küpeli, Politikwissenschaftler an der Ruhr-Uni Bochum und spezialisiert auf den Kurdenkonflikt, befürchtet einen Bürgerkrieg. „Die Festnahmen der HDP-Parteivorsitzenden und zahlreicher führender HDP-Abgeordneter bedeutet für die Demokratie in der Türkei, dass die einzige linke und prokurdische Stimme im Parlament zum Schweigen gebracht wird. Damit wird der parlamentarische Weg für die Kurden geschlossen. Mehr und mehr Kurden werden sich für den bewaffneten Weg entscheiden“, sagt Küpeli.

Das Zusammenleben von Türken und Kurden werde in Zukunft deutlich stärker von ethnischen Spannungen und von Gewaltakten geprägt sein. Dafür trage die AKP-Regierung die Verantwortung. „Wie auch in der Vergangenheit werden die Ereignisse in der Türkei unmittelbare Konsequenzen in Deutschland haben. Es wird sicherlich vermehrt zu Übergriffen von beiden Seiten kommen. Durch die Gewalteskalation, die in der Türkei absehbar ist, ist auch in Deutschland mit Anschlägen zu rechnen“, warnt Küpeli.

Erdogan sei nicht mehr aufzuhalten

Sowohl Küpeli als auch Copur sind sich einig: Erdogan sei auf seinem zer­stö­re­rischen Weg nicht mehr aufzuhalten. „Bisher war Erdogan mit seinem repressiven, antidemokratischen Kurs sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch soweit erfolgreich, dass er den Umbau der Türkei Richtung Präsidialsystem und weg von der Demokratie vollziehen konnte. Er konnte durch den Krieg gegen die Kurden die rechte Oppositionspartei MHP auf seine Seite ziehen, damit hat er eine Mehrheit der Wähler hinter sich“, erklärt Küpeli.

„Erdogan ist getrieben von seinen Groß- und Allmachtfantasien. Ich glaube nicht, dass er noch aufgehalten werden kann“, sagt der Türkei-Experte Burak Copur. Der Worte seien jedenfalls genug gewechselt. Die Appeasement-Politik der Bundesregierung sei gescheitert.

EU-Beitrittsverhandlungen aussetzen

Copur fordert, dass die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ausgesetzt und die EU-Beitrittshilfen an Ankara eingefroren werden. „Die deutschen und europäischen Steuerzahler zahlen Milliarden an die Türkei, um demokratische Institutionen zu stärken und die Türkei näher an die EU heranzuführen. Diese Gelder werden ganz offensichtlich nicht zur Stärkung der Demokratie in der Türkei genutzt“, betont Copur.

Stattdessen müssten sich Berlin und Brüssel mit den oppositionellen Kräften und der Zivilbevölkerung solidarisieren. Ansonsten würden, glaubt Copur, die Flüchtlingszahlen in Deutschland wieder steigen. Nicht wegen schutzsuchender Menschen aus Syrien, sondern aus der Türkei.

Klare Worte von Serdar Yüksel

Ismail Küpeli fordert seinerseits, dass Deutschland und die Europäische Union ihren „Sorgen“ politische und ökonomische Konsequenzen folgen lassen müssen. „Die AKP-Regierung reagiert auf Druck von außen durchaus, wie etwa im Machtkampf mit Russland sichtbar wurde. Wir müssen inzwischen auch über die Aussetzung der wirtschaftlichen Kooperationen mit der Türkei diskutieren. Auf freundschaftliche Ratschläge hört man in Ankara nicht“, sagt Küpeli.

Klare Worte findet auch der kurdischstämmige Landtagsabgeordnete Serdar Yüksel (SPD): „Wer nachfragende Journalisten einsperrt, wer freie Medien verbietet, wer die Grundrechte mit Füßen tritt, wer frei und demokratisch gewählte Politiker einsperrt und sich zur Wiedereinführung der Todesstrafe bekennt – der hat nur ein Ziel: Er will die wichtigsten Pfeiler der Demokratie zum Einsturz bringen und eine Diktatur errichten.

Yüksel fordert Abzug der Bundeswehr aus Türkei

Auch Serdar Yüksel glaubt, dass die Verschärfung der innenpolitischen Konflikte auf Deutschland ausstrahlen werden. „Wir konnten bereits dieses Jahr sehen, dass die innerpolitischen Konflikte der Türkei auch die hiesigen Menschen mit türkischem und kurdischem Migrationshintergrund nicht unberührt lassen. Wichtig ist jedoch klarzustellen, dass diejenigen, die hier leben, sich auch zu den Grundwerten unseres Grundgesetztes bekennen müssen. Deutschland darf auf keinen Fall zum Austragungsort für politische Konflikte innerhalb der Türkei werden. Das Recht auf das friedliche Demonstrieren steht hier selbstverständlich außer Frage. Ausschreitungen sollten daher mit allen Mitteln des Rechtsstaats begegnet werden.“

Da die diplomatischen Versuche des Westens bisher alle gescheitert seien, fordert Yüksel nun den Abzug der Bundeswehr aus der Türkei. Auch über ein Einreiseverbot für türkische Spitzenpolitiker und deren Umfeld könne man nachdenken, so Yüksel.

Bundespräsident Gauck fordert Reaktion der EU

Als einer der ersten deutschen Politiker reagierte am Freitag Bundespräsident Joachim Gauck. „Was ich derzeit in der Türkei beobachte, bestürzt mich“, sagte Gauck dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“. Wenn die Regierung in Ankara den Putschversuch vom Juli nutze, um die Pressefreiheit faktisch auszuhebeln, wenn die Justiz instrumentalisiert werde und der Präsident die Wiedereinführung der Todesstrafe betreibe, würden zentrale Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaats außer Kraft gesetzt. Das sei eine Eskalation, die die Europäer nicht unbeantwortet lassen könnten, sagte Gauck. Zusammenarbeit könne nicht den Verzicht auf Kritik bedeuten.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bestellte den amtierenden türkischen Gesandten am Freitag zum Gespräch ins Auswärtige Amt. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, die Festnahmen von Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP bestätigten „alle internationalen Befürchtungen“.

„In hohem Maße alarmierend“

Regierungssprecher Seibert sagte: „Es bleibt dabei: Es ist in hohem Maße alarmierend, was derzeit in der Türkei geschieht.“ Zugleich mahnte er die türkische Regierung, rechtsstaatliche Grundsätze zu wahren. „Soweit wir daran Zweifel haben, sprechen wir dies gegenüber unseren türkischen Partnern auch auf allen Ebenen an.“ (mit dpa)

Dieser Artikel ist zuerst auf derwesten.de erschienen.