Istanbul. Bei einem Anschlag nach der Festnahme türkischer Oppositionspolitiker sterben mehrere Menschen. Nun reklamiert der IS die Tat für sich.
Türkische Sicherheitskräfte haben die beiden Vorsitzenden der pro-kurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdağ, im Zuge von Terrorermittlungen festgenommen. Demirtas befindet sich in Untersuchungshaft, berichtete die Nachrichtenagentur Anadolu. Die Politiker gehören zu zahlreichen HDP-Abgeordneten im türkischen Parlament, deren Immunität im vergangenen Mai auf Betreiben des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan aufgehoben worden war.
Demirtas wurden den Berichten zufolge in Diyarbakir festgenommen, Yüksekdağ in der Hauptstadt Ankara. Den beiden wird von der Staatsanwaltschaft die Verbreitung terroristischer Propaganda vorgeworfen. Sie seien festgenommen worden, nachdem sie sich geweigert hätten, zur Vernehmung bei den Ermittlern zu erscheinen, teilten die Behörden in der Nacht mit.
IS beansprucht tödlichen Anschlag für sich
Im Anschluss an die Festnahmen kamen bei einem Autobomben-Anschlag in der Kurdenmetropole Diyarbakir nach Regierungsangaben mindestens acht Menschen ums Leben. Mutmaßlich handele es sich um einen Selbstmordanschlag, unter den Toten sei ein „Terrorist“ der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, sagte Ministerpräsident Binali Yildirim am Freitag vor Journalisten in Istanbul.
Die Islamisten-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) reklamiert den tödlichen Autobombenanschlag mittlerweile für sich. Der IS bekannte sich zu der Tat. Dies meldete am Freitagabend die IS-Nachrichtenagentur Amak.
Selbstmordanschlag nahe Polizei-Hauptquartier
Bei dem Attentat wurden nach offiziellen Angaben acht Menschen getötet und mehr als 100 verletzt. Die Bombe war am Freitag in der Nähe des Polizei-Hauptquartiers der Provinz detoniert.
In Hamburg, Berlin und Hannover versammelten sich in der Nacht zum Freitag spontan jeweils rund 100 Kurden in der Stadtmitte zu Protestkundgebungen. Nach Angaben der Polizei waren die Menschen aufgebracht, verhielten sich aber friedlich.
Bundespräsident Gauck kritisiert Geschehnisse in der Türkei
Bundespräsident Joachim Gauck hat das Vorgehen der türkischen Regierung gegen Journalisten, Politiker und Richter mit deutlichen Worten verurteilt. „Was ich derzeit in der Türkei beobachte, bestürzt mich“, sagte Gauck in einem Interview mit dem „Spiegel“, aus dem am Freitag vorab zitiert wurde. Das Interview nimmt keinen Bezug auf die neuen Festnahmen, die nach dem Anschlag am Freitag geschahen.
Wenn Ankara den Putschversuch nutze, „um etwa die Pressefreiheit faktisch auszuhebeln, wenn es die Justiz instrumentalisiert und der Präsident die Wiedereinführung der Todesstrafe betreibt“, dann würden zentrale Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaats außer Kraft gesetzt, sagte Gauck. Er frage sich: „Ist diese Politik die endgültige Abkehr vom Weg in Richtung Europa?“
Weitere Festnahmen von HDP-Politikern
Nach den Verhaftungen der HDP-Politiker hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier am Freitagvormittag den türkischen Gesandten einbestellt. „Niemand bestreitet das Recht der Türkei, der Bedrohung durch den Terrorismus entgegen zu treten und den blutigen Putschversuch mit rechtsstaatlichen Mitteln aufzuarbeiten“, hieß es in einer Mitteilung des Auswärtigen Amtes. „Das darf aber nicht als Rechtfertigung dafür dienen, die politische Opposition mundtot zu machen oder gar hinter Gitter zu bringen.“
Der Sprecher der kurdischen Partei DBP, dem kommunalen Ableger der HDP, teilte mit, neben Demirtas und Yüksekdağ seien sieben weitere HDP-Abgeordnete festgenommen worden. Darunter sei Ferhat Encu, dem am Donnerstag die Ausreise aus der Türkei verweigert worden war. Die Staatsagentur Anadolu veröffentlichte eine Erklärung des Innenministeriums, nach der insgesamt elf HDP-Vertreter festgenommen worden seien, gegen vier weitere Angeordnete gebe es Haftbefehle.
Vorwurf: Unterstützung der verbotenen PKK
„Die Polizeibeamten stehen vor meinem Haus in Diyarbakir mit dem Beschluss, mich gewaltsam in Gewahrsam zu nehmen“, twitterte Demirtas kurz vor seiner Festnahme. In den sozialen Medien wurden trotz erschwerten Zugangs Livevideos von den Festnahmen und anschließenden Hausdurchsuchungen gezeigt. Die HDP verbreitete über den Dienst Periscope zudem ein Video, dass eine Polizeirazzia in der HDP-Zentrale in Diyarbakir zeigen soll.
Erdogan hält die HDP für das Sprachrohr der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Parlament. In den vergangenen Wochen hatte die türkische Regierung bereits in mehr als zwei Dutzend kurdischen Gemeinden die Bürgermeister durch Zwangsverwalter ersetzt.
Lokale Verwaltungen unter Zwangsaufsicht
Die türkischen Behörden sind zuletzt massiv gegen kurdische Politiker im Südosten des Landes vorgegangen. Anfang der Woche wurden bei Razzien in der Provinz Mardin 25 Politiker der kurdischen Partei DBP, die ein kommunaler Ableger der HDP ist, festgenommen. Vor einer Woche waren die DBP-Bürgermeister von Diyarbakir, Gültan Kisanak und Firat Anli, unter Terrorvorwürfen festgenommen worden. Gegen die beiden wurde inzwischen Haftbefehl erlassen.
Erst im September hatte die türkische Regierung 26 Bürgermeister im Südosten des Landes wegen mutmaßlicher Unterstützung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK abgesetzt und deren Verwaltungen unter Zwangsaufsicht gestellt. (dpa/rtr)