Berlin. Der November wird für die Kanzlerin und für die Unionsparteien zum Monat der Entscheidungen. Bisher zögert sie wichtige Dinge heraus.

Sollte Angela Merkel tatsächlich aufhören und nicht noch einmal als Bundeskanzlerin antreten, dann bekäme ihre Partei mehr als bloß eine Winterdepression schon im November. Allerdings sendet Merkel seit Wochen völlig andere Signale. Sie ist wieder die Glucke der CDU, pflegt die Basis, „bearbeitet“ die CSU, spricht mit den Gewerkschaften und sucht mit der SPD einen Bundespräsidenten.

Elmar Brok begleitet Merkel seit Jahren, der Europa-Politiker sitzt im CDU-Vorstand, schaut sich um und bekennt: „Ich kenne niemanden, der noch glaubt, dass sie nicht mehr antritt.“

Die Suche nach dem geeigneten Zeitpunkt

Merkels Suche nach dem „geeigneten Zeitpunkt“, eigentlich nur eine Floskel zur K-Frage, ist längst zum Vorsatz des Monats geworden. November wird für Merkel zum Monat der Entscheidungen. Am Freitag steht der Parteitag der CSU an, für die Kanzlerin kommt er zu früh, um nach dem langen Streit über die Flüchtlingspolitik dort aufzutreten. Darüber war sie sich mit CSU-Chef Horst Seehofer schon länger einig.

Der größte Beziehungsstress der beiden ist tatsächlich schon vorbei. Im Verhältnis zu Seehofer gab es nie den Punkt, wo beide derart überkreuz gewesen wären, dass sie nicht miteinander reden oder sich nicht in die Augen schauen konnten. Dass die Freundschaft – eine Parteifreundschaft wohlgemerkt – gelitten hat, ist klar. Aber Merkel ist keine Frau, die sich von Freundschaften politisch leiten ließe.

Die Schwesterparteien nähern sich bei vielen Themen an

Merkel und Seehofer planen jetzt, sich Anfang 2017 in München mit ihren Parteiführungen zu treffen. Um des lieben Friedens willen, der dort besiegelt werden soll, kam die CDU-Chefin den Bayern schon bei der Reform der Erbschaftsteuer und beim Länderfinanzausgleich weit entgegen. Auch das jüngste Treffen zur Rentenpolitik diente dazu, erstens eine gemeinsame Position zu finden und zweitens eine Verhandlungslinie gegenüber der SPD.

In der CDU-Führung ist man der Meinung, dass Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) noch einen Rentenkonsens anstrebt, ihr Parteichef Sigmar Gabriel aber eine Auseinandersetzung im Wahlkampf vorzieht. Es gibt CDU-Politiker, die überzeugt sind, dass die Mütterente vor vier Jahren die Union über die 40-Prozent-Grenze brachte. Und da man jetzt nicht alles gleichzeitig finanzieren kann – bessere Mütterrente, Angleichung im Osten, größere staatliche Förderung für die Riester-Rente, höheres Rentenniveau, Verbesserungen für bestimmte Gruppen wie alleinerziehende Mütter –, bleibt die Altersversorgung definitiv ein Thema im Wahlkampf 2017.

Beim Thema Flüchtlingsobergrenze scheint alle Mühe vergeblich

Mehr noch: Die Rente ist zum Sinnbild für die Suche nach Sicherheit geworden. Und dieser Sehnsucht will die Union im Wahlkampf gerecht werden. Sie ist ein Beispiel für die Mahnung des Europa-Politikers Brok, den Menschen „Ängste vor der Globalisierung zu nehmen“. Deutschland soll Deutschland bleiben – das ist das noch inoffizielle Motto für die Unionskampagne, die im Konrad-Adenauer-Haus geplant wird.

Beim Thema Flüchtlingsobergrenze scheint hingegen alle Mühe vergeblich, ein Kompromiss zwischen CDU und CSU unmöglich. Die Forderung kommt nicht in ein gemeinsames Programm, sondern in den Forderungskatalog der CSU. So ging Seehofer schon vor vier Jahren bei der Maut vor. Auch diese Forderung hatte er zum Leidwesen der CDU nicht aufgegeben und anschließend sogar im Koalitionsvertrag festgeschrieben.

Ein Kommunikationschaos ist Merkel ein Graus

Damit haben Merkel und Seehofer gleichwohl einen Modus gefunden, um den Streit der vergangenen zwölf Monate nicht unendlich fortzusetzen. „Merkel merkt, die Dinge entwickeln sich in die richtige Richtung“, analysiert Parteifreund Brok und meint in erster Linie den Rückgang der Flüchtlingszahlen.

Ein Modus Vivendi mit der CSU wäre die Voraussetzung für eine erneute Kanzlerkandidatur. So überstürzt wie bei der SPD vor vier Jahren will Merkel die K-Frage nicht angehen. Ein Kommunikationschaos wäre ihr ein Graus. Aber genau das droht, weil die CSU – von einigen prominenten Ausnahmen vor allem aus der Berliner Landesgruppe abgesehen – weiter offen lässt, ob Merkel auch ihre Kanzlerkandidatin sein kann.

Es gibt für die CDU-Chefin zwei passende Anlässe vor dem CDU-Parteitag am 5. Dezember in Essen, um sich zur Kandidatur zu äußern: auf der Klausur des Parteivorstands am 20./21. November oder auf einer der vier CDU-Regionalkonferenzen in Neumünster, Heidelberg, Münster und Jena.

Gesucht ist ein Konsens bei der Wahl des Bundespräsidenten

Schon im Sommer hatte Merkel entschieden, vor dem CDU-Parteitag Regionalkonferenzen abzuhalten. Das ist der Versuch, an Funktionären vorbei unmittelbar mit der Basis zu kommunizieren. Mit dem Rückhalt, den sie sich erhofft, fährt sie dann nach Essen. Dort war sie im April 2000 zur CDU-Chefin gewählt worden. Tritt sie als Parteichefin wieder an, wird Merkel zum Opfer der eigenen Propaganda.

Dann muss sie selbstredend auch als Kanzlerin wieder kandidieren. Mehr als einmal hatte sie erklärt, dass Kanzlerschaft und Parteivorsitz in eine Hand gehören. Auch da war ihr die SPD ein warnendes Beispiel. Als ihr Vorgänger Gerhard Schröder 2014 den SPD-Vorsitz abgab, war das für die Oppositionsführerin Merkel „ein Punkt, wo ich gedacht habe: Das hat Konsequenzen.“

Spätestens in Essen wird Merkel sagen müssen, ob sie eine vierte Amtszeit anstrebt. Bis dahin will sie auch die aktuell brisanteste Frage klären: Wer wird der nächste Bundespräsident? So wie Merkel das sieht, hat die Union viel zu gewinnen, aber nicht wenig zu verlieren. Um jedes Risiko zu minimieren, strebt sie eine Einigung mit der SPD an.

Die Kandidatenfindung für einen Bundespräsidenten ist schwierig

Aber die Kandidatenfindung ist schwierig. Das Staatsoberhaupt soll politisch versiert sein, aber eher nicht aus der aktiven Parteipolitik kommen. Merkel könnte schwerlich erklären, warum die Union zwar mit Abstand die stärkste Kraft ist, aber dann einem SPD-Politiker wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) den Vortritt lassen sollte. Die CSU will wiederum unbedingt einen Bewerber vermeiden, der als Vorbote für Schwarz-Grün verstanden werden könnte. Mitte November will Merkel sich mit Seehofer und Gabriel verständigen.

Scheitert der Konsens, tritt der Fall ein, den Merkel scheut, eine offene Kampfabstimmung: hier die Union, dort SPD, Linke und Grüne. Die Frontstellung ist nicht sicher, aber auch nicht ausgeschlossen. Es ist eine Polarisierung, die Merkel für den Wahlkampf erwartet, aber doch möglichst lange hinausschieben will.

Wenige in der Union setzen auf Norbert Lammert

Nicht wenige in der Union setzen unverdrossen auf Norbert Lammert. Der Parlamentspräsident hat zwar den Abschied aus der Politik angekündigt, ließe sich aber wohl noch umstimmen. „Ich gebe den Namen Lammert nicht auf“, sagt einer aus der CDU-Führung und schöpft neue Zuversicht, seitdem 70 führende Künstler und frühere DDR-Bürgerrechtler Lammert aufgefordert haben, die Absage an eine Kandidatur zu überdenken.

Andere sagen, es müssten schon Seehofer und Merkel gemeinsam auf Lammert einreden, am besten auch gleich auf dessen Ehefrau, die sich offenbar am wenigsten einen Umzug ins Schloss Bellevue vorstellen kann. Von allen Punkten, die zur Klärung anstehen, steckt in der Präsidentenfrage noch das größte Risiko eines Novemberblues.