Berlin/München. Der Angreifer plante seine Morde, lockte Menschen in die Falle. Er war kein Islamist, es war der Amoklauf eines labilen Teenagers.
Plötzlich ist da nur noch die Leere des Parkdecks. Das Grau des Asphalts, ein Moment der Stille. Der Rucksack noch immer gefüllt mit 300 Schuss Munition, die Waffe in der Hand, eine Glock, neun Millimeter. Aber da ist niemand auf dem Dach, den David S. noch töten kann.
Dann hört der 18 Jahre alte Teenager die Rufe von tobenden Anwohnern aus dem Hochhaus nebenan: „Du Arschloch! Du Hund! Du Penner!“ Und: „Scheiß Kanaken!“ David S. reagiert, er brüllt den Anwohnern entgegen, ein wirrer Dialog beginnt. „Ich bin Deutscher. Ich bin hier geboren worden.“
David S. erwacht aus seiner Dämmerung. Vom Rausch der Bluttat wechselt der Angreifer in den Modus des Erklärens. Mit der Ruhe auf dem Parkdeck bricht die Realität zurück in das Leben von David S. – ein Leben in der Krise, aus der er offenbar nur noch den Weg der Gewalt sah. „Ich war in stationärer Behandlung“, ruft er den wütenden Anwohnern entgegen. Er sei aufgewachsen „hier in der Hartz-IV-Gegend“. Und dann sagt er: „Ich habe nichts getan.“
Gewaltforscher sehen darin den Moment, in dem der Wahn weicht und die Erschöpfung den Amokläufer übermannt. Der Moment, wenn die öffentlich inszenierte und gut vorbereitete Tat nicht mehr nach dem vorher im Kopf ausgemalten Plan verläuft. Der junge S. wirkt auf dem Video, das die Anwohner in dem Hochhaus kurz danach ins Internet gestellt hatten, irritiert und unkoordiniert. Er schimpft zurück, läuft hin und her, schießt ein paarmal wahllos um sich. Aus dem Abseits sind Schreie zu hören.
Das Video gibt Aufschluss über die Psyche des Täters
Erst Minuten ist es her, dass der Teenager neun Menschen getötet hat – auf der belebten Straße vor einer McDonald’s-Filiale und in der engen Passage des Einkaufszentrums, nur einige Meter entfernt. Jetzt, oben auf dem Parkdeck, ist Ali David S. allein. Am Tag nach der Tat kommt man der Psyche des Täters vor allem mit diesem Video näher.
Die Stunden nach dem Angriff sind ungewiss. Ein Terrorakt? Ein Team an Tätern? Islamisten? Neonazis? Szenarien schwirren durch die Nachrichtenwelt, befeuert von Twitter-Meldungen erschrockener Passanten. Auch die Polizei sagt: Wenig ist sicher, vieles unbestätigt. Erst in der Nacht kommt Klarheit in das Nachrichtengewitter.
Doch auch am Tag nach der Tat geht es nicht um Gewissheiten. Es bleibt eine Spurensuche nach dem Motiv des Täters. Eine Suche nach Erklärungen für das Morden. Für den Amok.
In der Nacht durchsuchen Polizisten die Wohnung
Die wenigen Ergebnisse bisheriger Ermittlungen verkünden die Polizei und die Justiz am frühen Samstagachmittag auf einer Pressekonferenz: David S., 18 Jahre alt, in München geboren, hier aufgewachsen. Er war Schüler, lebte noch zu Hause bei seiner Familie, hat einen Bruder. S. ist Deutsch-Iraner, seine Eltern waren in den 90er-Jahren aus dem Iran geflohen.
Die Polizei in München sieht kein islamistisches Motiv in der Tat. Sie spricht nun auch offiziell vom Amoklauf. Noch in der Nacht hatten Polizisten die Wohnung der Eltern und des Attentäters durchsucht. Die Fahnder entdeckten ein Buch mit dem Titel: „Amok im Kopf – warum Schüler töten“ im Zimmer von S., auch Zeitungsartikel über Amokläufe. Seine Tat beging David S. auf den Tag genau fünf Jahre nach dem rechtsterroristisch motivierten Anschlag des Norwegers Anders Breivik, der 2011 durch einen Amoklauf auf der Insel Utoya und Sprengstoffangriffen in der Osloer Innenstadt fast 80 Menschen getötet hatte.
Täter steigern sich in Gewaltfantasien hinein
Digitale Spuren, die S. möglicherweise auf Computern oder Handys hinterlassen hat, werden noch untersucht. Typisch ist, dass Amokläufer wie Terroristen ihre Tat planen, sie suchen Ziele in ihrem Umfeld. Schule, Kino, Shoppingcenter. Und sie befassen sich in vielen Fällen im Vorfeld der Tat exzessiv mit Gewalt – in Videos im Internet, in Computerspielen. Das belegen Studien von amerikanischen Gewaltforschern, die etwa Schulmassaker untersuchten. Täter steigern sich in eine Brutalität. Oft obsessiv, pathologisch.
Die Welt wankt gerade zwischen Attentaten von Paris, Brüssel, Orlando, Nizza und Würzburg. Mal ist es eindeutig Terror, mal eindeutig Amok. Mal irgendwo dazwischen. „Gewaltkulturen stecken sich gegenseitig an“, sagt Andreas Zick, Konfliktforscher an der Universität Bielefeld. Amokläufer kopieren Taten von ausgebildeten Terrorgruppen. Und Terrorismus wie in Norwegen im Fall Breivik, in Würzburg oder Nizza trägt Elemente von Amokläufen. Angriffspläne werden modernisiert wie Pläne für den Klimaschutz. Im Internet schildern Attentäter ihre Gewaltfantasien, sie erklären den Bau der Bomben oder wie sie an Waffen gekommen sind. Künftige Täter finden hier Ideen, die sie sich aneignen. Und sie finden eine Pseudolegitimation für ihre Gewalt.
Der Amokläufer ist isoliert, der Terrorist Teil einer Gemeinde
Und doch steht die Forschung zu Amokläufen vor allem in Europa noch am Anfang. Bisher hatten vor allem die USA solche Taten in hoher Zahl erlebt – an Schulen, an Universitäten, in Kinosälen. In Deutschland waren Amokläufe wie an Schulen in Winnenden oder Erfurt kriminelle Einzelfälle. Zuletzt stand in der Wissenschaft der Terrorismus im Mittelpunkt, weil Extremisten vom „Islamischen Staat“ oder al-Qaida Attacken auch in Europa durchgeführt hatten. Der Amok geriet aus dem Fokus.
Dabei gibt es wichtige Unterschiede – auch in der Prävention dieser Taten. Der Terrorist sieht sich als Teil einer ideologischen Gemeinschaft. Der Amokläufer sieht sich isoliert. „Er steht meist am Ende einer individuellen und psychischen Krise“, sagt Gewaltforscher Zick. „Amokläufer füllen die Lücke ihrer Identitätskrise mit einer überbordenden Selbstinszenierung, etwa als gottgleicher Ego-Shooter, der mit seiner Waffe über Leben und Tod entscheidet.“ Jeder in der Umwelt gilt als Feind. Brüche im Leben können Auslöser für den Amoklauf sein: Schulabbruch, Verlust einer Beziehung, Isolation. Politisch radikalisiert sind sie selten.
Im Video auf dem Parkdeck Ali David S. zu hören, wie er ruft: „Wegen euch bin ich gemobbt worden sieben Jahre lang.“ Die Wahrnehmung als Opfer lässt sich laut Forscher bei Amokläufen von oft jungen Männern feststellen.
Nachbarn beschreiben David S. als freundlich
Der Staatsanwalt in München teilt mit: Es gebe Hinweise, dass S. aufgrund einer depressiven Störung in Therapie war. Doch über das Krankheitsbild sagt er wenig. Auch hier bleibt Unklarheit. Die Eltern, die Aufschluss geben könnten, waren laut Polizeisprecher kaum vernehmungsfähig. Auch bleibt offen, wo S. in Therapie war.
Das Haus seiner Familie liegt in einer guten Gegend von München. Hauptbahnhof, Universität und Museen sind nah. Das Gebäude ist fünfstöckig und von vielen Familien bewohnt. Sie alle sind geschockt und wollen sich nicht äußern, auch aus Rücksicht auf die Kinder. „Wir wollen das von ihnen fernhalten“, sagt eine Bewohnerin. Sie kannte David, nennt ihn freundlich. „Neulich sind wir im Fahrstuhl nach oben gefahren.“ Ein anderes Mal war der Fahrstuhl kaputt, und er habe geholfen, den Kinderwagen zu tragen.
Nachbarn können Tat nicht fassen
Als seine andere Nachbarin nach Hause kommt, ist sie zunächst über die internationale Presse in ihrem Hausflur erschrocken. Laila M. tritt schließlich mit Sonnenbrille vor die Tür und sagt, dass sie David mochte. „Er hat immer freundlich gegrüßt, und ich hatte ihn eher als ruhigen Jungen eingeschätzt.“ Er habe Zeitungen ausgetragen, immer gewissenhaft. Wenn sie ihn fragte, wie es in der Schule laufe: „Alles super.“ Dann sagt die Nachbarin noch diesen Satz: „Wenn mir jemand gesagt hätte, einer von hier hätte einen Anschlag verübt, ich hätte meine Hand ins Feuer gelegt dafür, dass es niemals David war.“
Doch David S. legte seine Freundlichkeit ab. Und lebte seine Gewalt aus. Nach dem Morden schoss er sich selbst mit seiner Waffe in den Kopf.
Kurz vor der Tat hatte er laut Polizei das Profil von „Selina Akim“ auf Facebook gehackt. Er soll dann junge Menschen zum McDonald’s am Einkaufszentrum gelockt haben, mit einem kurzen Eintrag auf der Profilseite, eine Einladung: „Kommt heute um 16 Uhr Meggi am OEZ. Ich spendiere euch was wenn ihr wollt aber nicht zu teuer.“ Dutzende junge Menschen klickten unter der Nachricht auf „Gefällt mir“.