Berlin. Bei dem Täter von München soll ein Buch zu psychologischen Fallrekonstruktionen von Amokläufen gefunden worden sein. Fakten zum Buch.
Im April 1999 töten zwei Minderjährige an der Columbine High School in den USA zwölf Mitschüler und einen Lehrer, bevor sie sich selbst erschießen. Sie haben sich minutiös auf den Amoklauf vorbereitet, wollen die ganze Welt zerstören. In Winnenden bei Stuttgart marschiert im Jahr ein 17-Jähriger Gymnasiast in seine Schule, erschießt 15 Menschen mit den Sportwaffen seines Vaters und am Ende sich selbst.
Es sind nur zwei Fälle aus einer langen Liste von Amokläufen. Was treibt die jungen Männer zu ihren Taten? Wie radikalisieren sie sich und warum kommen sie irgendwann auf die Idee, ihre grausamen Ideen in die Tat umzusetzen?
Der amerikanische Psychiater Peter Langman hat versucht, diesen Fragen in seinem Buch „Amok im Kopf – Warum Schüler töten“ auf den Grund zu gehen. Langmans Buch wurde nun zu Hause bei dem jungen Deutsch-Iraner gefunden, der vor einem Münchener Einkaufszentrum neun Menschen erschossen hat und sich anschließend umbrachte. Das teilte Münchens Polizeipräsident Hubertus Andrä mit, nach dem der Täter identifiziert und seine Wohnung durchsucht worden war. Der 18-Jährige Schüler hat sich demnach offenbar intensiv mit dem Thema Amoklauf auseinandergesetzt.
In aufwendiger Arbeit rekonstruiert der Psychiater Langman verschiedene Fälle, versucht, Muster zu erkennen, Erklärungen zu finden. Und natürlich geht es Langman auch darum, frühzeitig zu erkennen, ob ein junger Mensch zum Amokläufer werden könnte.
Täter von München hat sich intensiv mit dem Thema Amoklauf beschäftigt
Der Täter von München hatte sich wohl ein Buch als Vorbereitungslektüre ausgesucht, dessen Autor einen ruhigen und besonnenen Ton wählt, um über die Gründe von Amokläufen zu forschen. Langman beschränkt sich in seiner Analyse auf zehn Amokläufe an amerikanischen Schulen. Während andere wie der Erfurter Amokläufer sich bekanntermaßen mit exzessiven Gewaltvideos und Computerspielen radikalisierten, las der junge Amokläufer von München eine psychologische Fallstudie.
Die wichtigste Erkenntnis von Peter Langmans ist wohl, dass Schulamokläufe viel zu komplexe Phänomene sind, als dass man sie einer einzigen Ursache zuschreiben könnte. „Es gibt vieles, was wir nicht wissen“, schreibt der Psychologe in seinem 2009 auf Deutsch erschienenen Buch.
Dabei verweist er auf gewisse Parallelen in den Familienbiographien der Täter und in ihren Persönlichkeitsstrukturen und Problemen. Langman kommt zu dem Schluss, dass alle von ihm untersuchten Schulamokläufer psychisch schwer gestört gewesen seien: „Es sind keine normalen Jugendlichen, die sich für Mobbing rächen, die zu viel Videospiele spielen, die einfach mal berühmt sein wollen.“
Langman unterscheidet psychopathische, psychotische und traumatisierte Täter
Dabei unterscheidet Langman in seinem Buch drei Gruppen von Tätern: die psychopathischen, die psychotischen und die traumatisierten Amokläufer. Manche der späteren Täter litten unter schweren Wahnvostellungen, hörten Stimmen, die ihnen eine Amoktat befiehlen, andere hätten keinerlei Vorstellung davon, was gut und was böse sei. Wieder anderen gefiele das Gefühl, Lebewesen zu quälen, Macht über andere zu haben. Eine nicht geringe Anzahl der Täter seien in der Kindheit psychisch oder physisch missbraucht worden und kämen aus zerrütteten Familien. Etwa 100 Amokläufe hat es weltweit bereits gegeben, die Gründe sind jedes Mal individuell zu untersuchen.
Der Anschlag in München
Über den 18-Jährigen Deutsch-Iraner, der in München am Freitag neun Menschen erschossen hatte, ist indes noch zu wenig bekannt, um ihn und seine Tat in eine Reihe mit Langmans Fällen zu stellen. Der Münchener soll keinen Abschiedsbrief hinterlassen haben, in dem er Auskunft über seine Tat hätte geben können. Über seine Biographie ist noch nichts bekannt. Auch ist noch unklar, ob der Täter die erschossenen Menschen gekannt hat oder sie zufällig auswählte. Unter den Opfern sind viele Jugendliche, auch solche im Alter des Täters. Der Ort des Amoklaufs passt wiederum nicht zum Muster von Schulamokläufen.
Langan rät dazu, im Fall eines Amoklaufs keine „simplifizierten Erklärungen“ wie zum Beispiel Mobbing zu suchen, für das dann Rache genommen werde. Wäre dies der Fall, gäbe es weitaus mehr Amokläufe von gehänselten Schülern. Sogenannte „School Shooter“ seien stets psychisch gestörte Individuen. Auch der Täter von München soll in psychologischer Behandlung gewesen sein. Die wichtigste Frage, jene nach dem Grund des Amoklaufs, muss noch beantwortet werden. Dies kann noch Monate dauern.
Am Samstag sagte Langman in einem Telefonat mit der „Berliner Morgenpost“, er sei bestürzt über den Fund seines Buches bei dem Amokläufer von München. „Das fühlt sich sehr merkwürdig an“, sagte Langman. „Ich weiß natürlich nicht, warum er mein Buch gelesen hat“. Es sei nicht ungewöhnlich, dass sich Amokläufer mit den Taten anderer Amokläufer befassten, ob im Internet oder eben in Büchern. Langman sagte, der Täter habe in seinem Buch möglicherweise ein Vorbild für seinen Amoklauf gesucht. Denkbar sei auch, dass er sich selbst und seine eigene Psyche habe verstehen wollen, um nicht zum Mörder zu werden.
Langman sagte, es sei bereits das zweite Mal, das sein Buch im Besitz eines Amokläufers gefunden worden sei, zuletzt auch 2013 im US-Bundesstaat Colorado.