Berlin/Ankara. Ungereimtheiten lassen die Gerüchteküche in der Türkei brodeln. Könnte es sein, dass Präsident Recep Erdogan von dem Putsch wusste?

Für die türkische Regierung stehen die Schuldigen fest: Anführer der Putschisten sei der Ex-Luftwaffenchef Akin Öztürk gewesen. Der General selbst dementierte dies am Montag bei seiner Aussage bei der Staatsanwaltschaft. „Ich bin niemand, der einen militärischen Putsch plant und leitet“, sagte er. Neben dem Ex-Luftwaffenchef wurden 6000 Soldaten inhaftiert, darunter mehr als 100 Admiräle und Generäle. Als Hintermann des Putschversuchs sieht Staatspräsident Recep Erdogan den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen.

Aber an der Darstellung der türkischen Regierung gibt es weiter Zweifel, auch in Deutschland. Selbst renommierte Fachleute wie der Islamwissenschaftler Udo Steinbach sagen: „Erdogan ist es zuzutrauen, einen solchen Putsch zu instrumentalisieren“. Das wäre zwar eine „monströse Weise, sich in die eigene Tasche zu spielen“. Aber auch früher schon sei Erdogan radikal vorgegangen. Zu offensichtlich ist der Präsident der Profiteur des Putschversuches – und bei der Aktion gab es auffallend viele Ungereimtheiten. Doch belegen lässt sich der Verdacht eines inszenierten Putsches nicht. Die türkische Regierung wies die Spekulationen empört zurück. Drei Theorien kursieren dennoch:

Erdogan als Strippenzieher: Dass der Präsident selbst hinter dem Putsch steht, um einen Vorwand für seinen geplanten Staatsumbau und die Erweiterung seiner Macht zu haben, hat als einer der ersten sein Erzfeind Gülen aus dem amerikanischen Exil erklärt. Der Putsch sei merkwürdig verlaufen, die politische Führung nicht gleich ausgeschaltet worden – und der Präsident habe ja selbst von einer Gelegenheit zur Säuberung gesprochen, meint Gülen. Fragen gibt es tatsächlich zuhauf: Die Putschisten hatten anders als in früheren Fällen keine Kommunikationsstrategie, der Luftraum war nicht gesperrt, Erdogan und die Regierung blieben

Die türkische Regierung wirft Fethullah Gülen vor, hinter dem Putsch gegen Präsident Recep Erdogan zu stehen.
Die türkische Regierung wirft Fethullah Gülen vor, hinter dem Putsch gegen Präsident Recep Erdogan zu stehen. © dpa

unbehelligt. Die Aufständischen – nur ein kleiner Teil des Militärs – besetzten nur ein paar Zufahrtswege in Istanbul, bekamen weder die Fernsehsender in den Griff, noch konnten sie die Staatsmaschinerie stoppen.

Dennoch spricht viel gegen den Verdacht: Welchen Vorteil die teilnehmenden Offiziere von einer solchen Verschwörung gehabt hätten, ist fraglich. Für Erdogan wäre das Risiko groß gewesen und der Blutzoll auch für einen skrupellosen Machtpolitiker wohl zu hoch. Erdogan hat zudem auch so gute Chancen, das von ihm gewünschte Präsidialsystem durchzusetzen.

Andererseits: Die „Säuberungswelle“ war offenkundig vorbereitet. 8777 Beamte sind schon ihrer Posten enthoben worden, darunter 30 Gouverneure und 52 Inspekteure. Am Wochenende waren rund 6000 Menschen festgenommen worden. Auch eine Liste mit abzusetzenden Justizangehörigen lag schon fertig in den Regierungsschubladen. Am Sonnabend, keine 24 Stunden nach dem Putsch, wurden 2745 Richter und Staatsanwälte suspendiert. Deshalb wird auch ein anderer Verdacht diskutiert.

Die Putschisten waren gewarnt: Variante Nummer zwei ist auch in der Türkei, in der Verschwörungstheorien schon immer Konjunktur hatten, populär. Danach hatten die Putschisten Kenntnis von einem Putsch von oben – einer großen Säuberungswelle, die noch vor der Sitzung des Hohen Militärrats Ende August erfolgen sollte. Erdogan habe unter anderem Offiziere, die dem islamischen Prediger Gülen nahestehen sollen, entlassen wollen; es wäre nicht die erste Entlassungswelle gegen vermeintliche Gülen-Anhänger in Militär, Polizei und Justiz gewesen. Über die angeblichen Pläne hatten Anfang vergangener Woche türkische Zeitungen berichtet. Die betroffenen Militärs waren gewarnt. Sahen sich Offiziere also unter Druck, ihrer eigenen Entlassung zuvorzukommen und rasch zu handeln? Die Eile würde immerhin die eklatanten Schwächen des Putsches erklären.

Erdogan war gewarnt: Nach dieser Theorie haben türkische Nachrichtendienste von den Putschplänen in den Streitkräften rechtzeitig Kenntnis erhalten – und ließen die Aktion kontrolliert laufen. Als ein Indiz dafür wird genannt, dass die Polizei schon vor dem Putsch ihre Sicherheitsvorkehrungen sichtbar erhöht hatte. Oder dass Erdogan von seinem Urlaubsort zurück nach Istanbul fliegen konnte und die erste Nachricht vom Putsch nicht das Militär verbreitete, sondern Premier Binali Yildrim.