Berlin. Eineinhalb Jahre nach Einführung der Pflege-Auszeit zieht Familienministerin Schwesig Zwischenbilanz. Die Nachfrage steigt, sagt sie.
Acht Stunden im Büro und danach noch einen kranken oder hochbetagten Menschen pflegen? Für viele ist das längst Normalität: Der Spagat zwischen Pflege und Beruf gehört für immer mehr Deutsche zum Alltag. Um den Druck von den Angehörigen zu nehmen, hat die Bundesregierung ein ganzes Paket mit Entlastungen geschnürt: Mit den neuen Regelungen zur Familienpflegezeit haben pflegende Angehörige das Recht auf eine berufliche Auszeit zwischen zehn Tagen und 24 Monaten. Eineinhalb Jahre nach der Einführung hat Familienministerin Manuela Schwesig jetzt ausrechnen lassen, wie viele Menschen das Angebot bereits genutzt haben, die Zahlen liegen unserer Redaktion exklusiv vor.
Rund 39.000 Frauen und Männer haben demnach seit Januar 2015 eine mehrmonatige berufliche Auszeit für die Pflege genommen. Zudem haben im ersten Jahr rund 13.600 Angehörige die bis zu zehntägige Auszeit zur Regelung eines akuten Pflegenotfalls genutzt. Die SPD-Politikerin fühlt sich von den Zahlen bestätigt: „Die Neuregelungen zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf greifen“, sagte Schwesig unserer Redaktion. „Die Auszeiten werden erfreulicherweise mehr und mehr in Anspruch genommen.“ Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf gehöre heute zu den großen Herausforderungen vieler Familien – auch die Arbeitgeber sollten dieser Frage einen höheren Stellenwert beimessen.
Zwei Drittel der privaten Pflegepersonen sind berufstätig
Kritiker bemängeln dagegen, dass die Hürden zu hoch seien. 2, 7 Millionen Pflegebedürftige gibt es derzeit in Deutschland, rund 70 Prozent werden zu Hause betreut, zwei Drittel der privaten Hauptpflegepersonen sind berufstätig. „Mehrere Zehntausend sind da immer noch wenige“, sagte die pflegepolitische Sprecherin der Grünen, Elisabeth Scharfenberg, mit Blick auf Schwesigs Zahlen.
Insgesamt gibt es drei Varianten zur Entlastung von pflegenden Angehörigen: Tritt ein unerwarteter Pflegefall in der Familie ein, können Angehörige eine zehntägige Auszeit vom Job nehmen – ohne auf Lohn verzichten zu müssen. Ähnlich wie beim Kinderkrankengeld bekommen Berufstätige aus der Pflegekasse einen Lohnersatz („Pflegeunterstützungsgeld“). Wer einen Angehörigen über längere Zeit pflegen will, ohne den Beruf gänzlich aufzugeben, kann bis zu zwei Jahre lang seine Arbeitszeit auf bis zu 15 Wochenstunden reduzieren („Familienpflegezeit“) oder sechs Monate lang ganz aussteigen („Pflegezeit“).
Darlehen waren kaum gefragt
Um die Lohneinbußen abzufedern, bietet der Staat zinslose Darlehen an, die allerdings später in Raten abbezahlt werden müssen. Nach Angaben des Familienministeriums nahmen zwar mehr als 39.000 Angehörige einer der beiden mehrmonatigen Optionen in Anspruch – doch die wenigsten nutzten dabei auch die staatlichen Darlehen: Seit Januar 2015 wurden insgesamt 429 Darlehensanträge gestellt, davon wurde in 348 Fällen ein Darlehen gewährt.
Eine Auszeit vom Job, um Zeit für die Familie zu haben – das war bislang vor allem eine Sache junger Eltern: Fast eine Million Mütter und Väter bezogen im Jahr 2014 Elterngeld. Die Zahl der Frauen und Männer, die darüber hinaus – also nach Ablauf der staatlichen Geldzahlung – in Elternzeit waren, liegt weitaus höher. Doch für immer mehr Deutsche stellt sich die Vereinbarkeitsfrage heute zweimal im Leben: Erst bei den Kindern, dann bei den alten Eltern.
Kritiker sehen noch immer hohe Hürden
Während es jedoch bei den Kindern mit dem Elterngeld eine solide staatliche Unterstützung gibt, halten Schwesigs Kritiker das Pflegezeitgesetz in diesem Punkt für verbesserungsbedürftig. Christel Bienstein, Pflegexpertin der Universität Witten-Herdecke, kritisiert seit Langem die mangelnde finanzielle Unterstützung: „Viele können es sich nicht leisten, eine berufliche Auszeit zu nehmen, auf Lohn zu verzichten, sich zu verschulden und später auch noch das Darlehen zurückzuzahlen.“ Auch von den Grünen kommt Kritik: „Die Lebenswirklichkeit heißt immer noch: Pflegezeit und Familienpflegezeit verringern das Einkommen“, sagt Pflegeexpertin Scharfenberg. „Selbstständige und Angestellte in kleinen Betrieben, vorwiegend Frauen, haben überhaupt keinen Anspruch auf die Pflegezeiten.“ Denn: Der Rechtsanspruch auf sechsmonatige Pflegezeit gilt nur in Betrieben ab 15 Mitarbeitern, die zweijährige Familienpflegezeit erst ab 25 Mitarbeitern. Nach Regierungsangaben sind daher rund 5,6 Millionen Arbeitnehmer ohne Anspruch.
Die zehntägige Auszeit mit Lohnersatzleistung dagegen sei gut, sagt die Grünen-Politikerin, sie sollte jedoch nicht nur einmal pro Pflegefall sondern jährlich gewährt werden – wie das Kinderkrankengeld. Unter Experten wird darüber hinaus diskutiert, ob es nicht an der Zeit ist, ein Lohnersatzmodell für sämtliche Beschäftigten einzuführen: Mit einer „Elternzeit für Ältere“ und einem Lohnersatz aus Steuermitteln könnten Pflegende gezielter unterstützt werden.
Bürger fühlen sich schlecht informiert
Die Bundesregierung geht davon aus, dass jedes Jahr rund 360.000 Berufstätige neu vor die Frage gestellt werden, wie sie Job und Pflege unter einen Hut bekommen sollen. In Umfragen zeigt sich immer wieder, wie groß Wunsch oder gefühlte Verpflichtung sind, sich um betagte und kranke Familienmitglieder zu kümmern: Sechs von sieben Beschäftigten würden eine berufliche Auszeit für die Pflege eines nahen Angehörigen in Erwägung ziehen. Nachholbedarf gibt es aber noch beim Wissen über die unterschiedlichen Angebote: Laut einer aktuellen Emnid-Umfrage im Auftrag des Familienministeriums fühlt sich nur jeder Zweite gut über Entlastungsmöglichkeiten bei der Pflege informiert.
Eine andere Lücke soll der Bundestag am Donnerstag schließen: Die Pflegeauszeiten gelten bislang nicht für Beamte und Soldaten, per Gesetz soll das nun geändert werden. „Ich freue mich sehr“, sagte Schwesig dieser Zeitung, „dass jetzt auch das geltende Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf im Wesentlichen wirkungsgleich im Beamten- und Soldatenbereich nachvollzogen wird.“