Brüssel/Berlin/London. Der Ton verschärft sich: Europa reagiert nach dem Brexit zunehmend abweisend auf die Briten. Auch Angela Merkel schaltet auf Härte um.
Das Leben geht weiter – auch nach einem Brexit. „Die EU ist stark genug, um den Austritt Großbritanniens zu verkraften“, sagt Angela Merkel am Dienstag im Bundestag. Sie könne den „britischen Freunden“ nur raten, sich „nichts vorzumachen“, fährt die Kanzlerin in einer Regierungserklärung fort. Es beginnt ein dramatischer Tag in Brüssel, Berlin und London. Die politischen Bühnen wechseln in rascher Folge – die Schauplätze eines drohenden Rosenkriegs:
Berlin: SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann setzt die Kanzlerin vor ihrem Abflug zu einem EU-Sondergipfel unter Druck. Sie soll dort darauf drängen, „dass möglichst schnell Klarheit geschaffen wird“, sagt er im Bundestag. Eine jahrelange Hängepartie? „Ich finde, das ist eine Zumutung für alle“, schimpft Oppermann und ruft Merkel zu, „ich erwarte von Ihnen, dass Sie für unsere Regierung ein zweites Zeichen setzen, die klare Ansage, dass es für Großbritannien keine Sonderbehandlung geben kann. Es darf keine Belohnung für den Austritt, keine Prämie für Nationalismus und Europafeindlichkeit geben.“ Eine klare Ansage.
Die eigentlich nicht mehr notwendig ist. Denn auch Merkel lässt keine Hintertüren offen. Die Verhandlungen zum Brexit sollen auch nach ihren Worten nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt werden. „Es muss und es wird einen spürbaren Unterschied machen, ob ein Land Mitglied der europäischen Familie sein möchte oder nicht. Wer aus dieser Familie austritt, der kann nicht erwarten, dass die Privilegien weiter bestehen werden“, so Merkel weiter. Sie deutet zugleich eine Messlatte an, als sie auf Norwegen verweist. Das Land gehört zwar nicht zur EU, setzt aber alle Brüsseler Richtlinien um und akzeptiert zum Beispiel die „freie Zuwanderung“, wie Merkel erläutert. Ein Fingerzeig? Der Merkel-Auftritt markiert einen Stilwechsel. Es gibt eine neue Ansage aus Berlin, sie fällt demonstrativ härter aus. In London bleibt es nicht verborgen.
London: Der traditionsreiche Sender BBC überträgt – ungewöhnlich genug – die 20-minütige Rede Merkels live. In London herrscht in allen Lagern große Unruhe, nicht nur in der Regierung, sondern auch bei der oppositionellen Labour-Partei. Ihr Chef Jeremy Corbyn sieht sich zurzeit einem Putsch gegenüber. Die überwältigende Mehrheit der Labour-Fraktion spricht ihm das Misstrauen aus. Auch der Kampf um die Nachfolge von Premier David Cameron ist längst entbrannt. Gewinnaussichten haben zwei Kandidaten: der Anführer des Brexit-Lagers Boris Johnson sowie die Innenministerin Theresa May. Und das umso mehr, weil der Schatzkanzler George Osborne, der bis zur Referendumsniederlage als der Erbe Camerons gehandelt worden war, nicht kandidieren will.
Für Jeremy Hunt ist es der richtige Zeitpunkt, einen Versuchsballon aufsteigen zu lassen. Bevor Großbritannien den zwei Jahre dauernden Verhandlungsprozess über den Austritt aus der Europäischen Union offiziell beginnt, schreibt der Gesundheitsminister in einem Beitrag für den „Daily Telegraph“, „müssen wir einen Deal aushandeln und das britische Volk darüber abstimmen lassen, entweder in einem Referendum oder in allgemeinen Wahlen“. Sollte er sich beim Kampf um die Cameron-Nachfolge durchsetzen und selber Premierminister werden, wäre es theoretisch sogar möglich, dass es doch nicht zum Brexit kommt. Die Idee eines zweitens Referendums wirft immerhin eine interessante Frage auf – die nach dem Preis eines Brexit. Was ist, wenn er den Briten am Ende zu hoch ist?
Brüssel: EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hört das Läuten. Zuletzt hatte er gedrängt, die Briten sollten sich schon bis zum Gipfel festlegen. Nun klingt derselbe Schulz gar nicht so garstig und lässt eine Zugbrücke runter. Er spricht sich dafür aus, den Briten einen Rückzieher von ihrer Brexit-Entscheidung zu ermöglichen. Wenn das Vereinigte Königreich zu anderen Erkenntnissen komme oder die Menschen noch einmal nachdenken wollten, sollte „das ganz sicher unterstützt werden“. Geht da noch was?
Auf dem Gipfel am Abend planen die Europäer erst einmal ohne die Briten. Am fünften Tag nach dem Votum sehe man schon klarer, meint Merkel. Die verbleibenden 27 EU-Staaten sollen bis März 2017 beschließen, wie sie die EU effektiver machen wollen.
In Brüssel war zuvor das EU-Parlament zu einer Sitzung zusammengetreten, die es so noch nicht gegeben hat. Herzen werden entblößt, Gefühle gezeigt. Schulz („war auch sehr aufgewühlt“) bekundet die Verbundenheit mit den jungen Briten, die zu drei Vierteln für die EU gestimmt haben. Der SPD-Mann dankt den Briten, die in den 43 Jahren EU-Zugehörigkeit in Brüssel und Straßburg „am Bau diese Hauses Europa mitgearbeitet haben“.
Kommissionschef Jean-Claude Juncker bekennt ebenfalls, für ihn sei „Europa nicht nur eine Sache des Kopfes. Ich bin traurig und verberge das nicht.“ Seine Gefühle lässt Juncker auch Nigel Farage spüren. Erst begrüßt er den Ukip-Chef herzlich, als wäre der EU-Gegner sein bester Freund. Er umarmt ihn, deutet Küsse auf die Wange an. Später geht er ihn hart an. „Das ist das letzte Mal, dass sie hier applaudieren“, schleudert er den Ukip-Abgeordneten entgegen. Er sei „überrascht darüber, dass sie hier sind. Sie haben für den Austritt gekämpft.“ Das britische Volk habe für den Austritt gestimmt. „Warum sind Sie hier?“ Dann Buhrufe und Pfiffe, als Farage ans Rednerpult tritt. Er feiert den Brexit, suhlt sich in der Niederlage seiner Gegner. Vor 17 Jahren hätten ihn alle ausgelacht, als er seine Austrittskampagne vorstellte. „Jetzt lachen sie nicht mehr, oder?“
Schulz muss die Abgeordneten beruhigen. So sehr wühlt sie Farages provokativer Auftritt auf. Zwischendurch klingt Farage dann fast ein wenig reumütig. Er strebt nach dem Brexit ein neues Abkommen zwischen Großbritannien und der EU an. „Wir werden mit euch Handel treiben, wir werden mit euch kooperieren. Wir werden euer bester Freund auf der Welt sein.“ Das sehen manche in Europa anders. Der britische EU-Austritt dürfte nach Einschätzung der EZB die Wirtschaft der Eurozone spürbar treffen. Das Wachstum könnte in den nächsten drei Jahren zusammen um 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte geringer ausfallen als bisher angenommen, warnte der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, laut Diplomaten am Dienstag beim Brüsseler EU-Gipfel.
Juncker gehört zu denen, die auf raschen Vollzug des Betrüblichen drängen: „Ich hätte gern, dass unsere britischen Freunde jetzt sagen, was Sache ist, so schnell wie möglich.“ Bevor London seinen Austrittswunsch nicht offiziell angemeldet habe, gebe es keine Verhandlungen. Seine Wortwahl ist hart: „Ich habe meinen Kommissaren verboten, mit Vertretern der britischen Regierung zu diskutieren.“ Auch die Volksvertreter wollen kein Zeitspiel der Briten dulden, ebenso wenig die Staats- und Regierungschefs. „Entweder man ist verheiratet oder nicht“, sagt Luxemburgs Premier Xavier Bettel, „etwas dazwischen gibt es nicht.“