London. Nach der Abstimmung hadern viele Menschen auf der Insel mit dem Ausstieg aus der Europäischen Union. Doch der ist jetzt kaum zu ändern.
Der Jammer ist groß. Nach der historischen Abstimmung für den Brexit reut es jetzt viele Briten, die EU verlassen zu müssen. Wie eine Umfrage für die Sonntagszeitung „Mail on Sunday“ herausfand, bedauern sieben Prozent der Befragten, für „Leave“, also für den Austritt aus der EU, gestimmt zu haben. Das macht immerhin rund 1,13 Millionen Wähler aus. Ein neues Wort macht die Runde: der Regrexit, die schnell anschwellende Reue über den Austritt. Ein gleichnamiger Hashtag wird auf Twitter minütlich populärer. Währenddessen zieht eine Petition, die ein zweites Referendum verlangt, immer mehr Unterzeichner an.
Auf der offiziellen Webseite des britischen Parlaments, die Petitionen von Bürgern annimmt, hatte William Healey dazu aufgerufen, eine neue Regel einzuführen. Diese soll besagen: Wenn es bei einer Volksabstimmung weniger als 75 Prozent Wahlbeteiligung gibt und kein Lager mehr als 60 Prozent Zustimmung bekommt, muss es ein neues Referendum geben. Nach diesen Regeln müsste ein neues Brexit-Referendum stattfinden – da die Wahlbeteiligung nur bei 72 Prozent lag und die Brexit-Befürworter nur etwa 52 Prozent der Stimmen bekamen.
Diese Petition ist schnell die größte geworden, die je gestartet wurde. Sie zog zeitweilig mehr als 3000 Unterzeichner per Minute an. Am Sonntagmittag hatte sie mehr als drei Millionen Unterschriften erreicht. Zieht eine Petition mehr als 100.000 Unterzeichner an, kann das Parlament sie zum Thema einer Debatte erklären. Darüber wird schon am Dienstag der zuständige Unterhausausschuss beraten. Allerdings ist bei der Unterzeichnerzahl Vorsicht geboten – laut BBC untersucht das britische Unterhaus Fälschungsvorwürfe.
Labour zerlegt sich nach dem Referendum selbst
Der Labour-Abgeordnete David Lammy unterstützt die Petitionskampagne und forderte seine Parlamentskollegen auf, zu intervenieren und das Referendumsresultat zu kippen. „Wir brauchen das nicht zu tun“, schrieb er bei Twitter. „Wir können diesen Wahnsinn stoppen und diesen Alptraum beenden durch eine Abstimmung im Parlament. Lasst uns nicht unsere Wirtschaft zerstören auf der Basis von Lügen und der Hybris von Boris Johnson.“
Rein technisch hätte Lammy recht. Das Referendum bindet das Unterhaus nicht, denn die uneingeschränkte Souveränität liegt im Königreich laut der ungeschriebenen Verfassung beim Parlament. Zudem gibt es im Unterhaus eine klare Mehrheit von Abgeordneten – 463 von insgesamt 650 Volksvertretern, das sind mehr als 70 Prozent –, die sich für den Verbleib in der EU ausgesprochen haben.
Doch die Chancen, dass sich die Unterhausabgeordneten gegen die Volksabstimmung stemmen werden, sind sehr gering. Premierminister David Cameron hatte das schon am Freitagmorgen unmissverständlich unterstrichen. „Dies war das größte demokratische Unternehmen in unserer Geschichte“, erklärte Cameron in seiner Ansprache in der Downing Street, „das Ergebnis ist klar, und der Wille des Volkes muss respektiert werden.“
Die schottische Regierungschefin hatte dann erklärt, die gesetzlichen Grundlagen für ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum zu schaffen. Vor zwei Jahren hatte sich das Land gegen die Scheidung von Restbritannien mit einer Mehrheit von 55 zu 45 Prozent ausgesprochen. Doch „der Kontext und die Umstände haben sich dramatisch verändert“, argumentiert Sturgeon jetzt, denn das Vereinigte Königreich als EU-Mitglied, für das Schottland 2014 gestimmt habe, „existiert nicht mehr“.
Neue Volksabstimmung in Schottland ist wahrscheinlich
Damit wird eine neue Volksabstimmung über den schottischen Austritt aus dem britischen Nationenverband laut Sturgeon „höchstwahrscheinlich“. Sie will ein solches Referendum noch innerhalb der zweijährigen Phase der Austrittsverhandlungen zwischen Großbritannien und der EU veranstalten. Mut dazu dürften ihr erste Meinungsumfragen machen. Die schottische Sonntagszeitung „Sunday Post“ veröffentlichte eine Erhebung des Instituts ScotPulse. Danach würden sich jetzt 59 Prozent der Schotten für die Unabhängigkeit entscheiden wollen.
Nicht nur in Schottland sind die Dinge im Fluss, sondern auch bei der größten Oppositionspartei im Land: Labour zerlegt sich selbst. Denn der Unmut, um nicht zu sagen die offene Verzweiflung und Wut, über den Brexit unter Labour-Politikern macht sich jetzt Luft in Angriffen auf den Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn. Ihm wird vorgeworfen, nur halbherzig für den EU-Verbleib gekämpft zu haben. Außerdem geht man davon aus, dass es schon in kurzer Zeit zu Neuwahlen kommen könnte. Und unter dem altlinken und unglücklich operierenden Labour-Chef Corbyn fürchtet Labour eine vernichtende Wahlniederlage.
Ein Misstrauensantrag gegen ihn ist schon gestellt worden, am Dienstag wird die Fraktion voraussichtlich darüber abstimmen. Corbyn reagierte darauf in der Nacht zum Sonntag, indem er ein einflussreiches Mitglied des Schattenkabinetts entließ: Der außenpolitische Sprecher Hilary Benn soll an dem Putsch gegen ihn mitgewirkt haben. Daraufhin räumte aus Protest am Sonntag ein Spitzenpolitiker nach dem anderen seinen Posten im Schattenkabinett. Corbyn sieht sich einer ausgewachsenen Rebellion gegenüber.