Brüssel. Selahattin Demirtas, Chef der Kurdenpartei HDP, spricht im Interview über den türkischen Präsidenten und dessen Weg zur Diktatur.
Es sind schwere Zeiten für den Frontmann der Kurdenpartei HDP. Nachdem das türkische Parlament die Strafverfolgung der meisten HDP-Abgeordneten ermöglicht hat, drohen Selahattin Demirtas Dutzende Prozesse und im Extremfall lebenslange Haft. In Brüssel bemüht er sich um Beistand gegen das autoritäre Regiment von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Unter anderem traf der 43-Jährige den Parlamentspräsidenten Martin Schulz und die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Mit Demirtas sprach Korrespondent Knut Pries.
Herr Demirtas, das türkische Parlament hat die Immunität von 55 der 59 HDP-Abgeordneten aufgehoben, darunter Ihre. Wie lange sind Sie noch ein freier Mann?
Selahattin Demirtas: Insgesamt gibt es rund 550 Strafanzeigen, davon 93 gegen mich. Jetzt wird es kritisch, weil wir in Kürze vor den Gerichten erscheinen müssen und vielleicht verhaftet werden.
Ist die Türkei noch eine Demokratie?
Demirtas: Die Türkei war nie ein demokratisches Land, und mit Erdogan sind wir davon noch weiter entfernt.
Erdogan will ein Präsidialsystem etablieren. Ist die Türkei damit auf dem Weg zur Alleinherrschaft?
Demirtas: Was Erdogan anstrebt, ist in Wahrheit kein Präsidialsystem, sondern eine Diktatur. Deswegen ist die Türkei jeden Tag stärker isoliert.
Viele erwarten vorgezogene Neuwahlen. Käme die HDP dabei noch über die Zehn-Prozent-Hürde?
Demirtas: Ich rechne mit Neuwahlen im Laufe eines Jahres. Aber alle Umfragen zeigen, dass wir wieder über zehn Prozent kommen.
Wir sehen schreckliche Bilder aus den Kurdengebieten im Südosten der Türkei. Ist das eine Auseinandersetzung zwischen dem Militär und der militanten PKK oder schon ein Krieg zwischen Türken und Kurden?
Demirtas: Im Moment weder das eine noch das andere. Es handelt sich um einen Krieg des türkischen Staats gegen die kurdische Bevölkerung. Es geht nicht nur gegen die Militanten. Wir sind auf dem Weg zu einem ethnischen Krieg.
Gibt es mit Erdogan einen Rückweg zum Dialog und friedlicher Verständigung?
Demirtas: Ich halte das für unmöglich. Solange er sich stark fühlt, kommt er nicht an den Verhandlungstisch zurück. Er betreibt eine rassistische Politik.
Bekommen Sie genügend Unterstützung von der EU?
Demirtas: Es gibt viel Unterstützung aus dem Europäischen Parlament, in Form von Besuchen und Friedensaufrufen, und ich denke, da kommt noch mehr. Das Parlament sollte eine eigene Delegation bilden, die sich speziell um den kurdischen Friedensprozess kümmert – das wäre auch im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage nützlich.
Kann die Türkei ein verlässlicher Partner in der Flüchtlingspolitik sein?
Demirtas: Ich glaube nicht, dass die Türkei derzeit einen guten Partner abgeben kann. In der Türkei gibt es keine Stabilität. Erdogan ist nicht an einem fairen Deal interessiert. Er will die Migrationskrise nutzen, um die EU unter Druck zu setzen. Für ihn sind die Europäer nicht Freunde, sondern Gegner.
Die Türkei hat über zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Sind Flüchtlinge in Ihrem Land sicher?
Demirtas: In den Lagern, wo 280.000 Menschen leben, ist es schwierig. Aber auch für die anderen, die irgendwo in den Städten sind. Sie haben keinen Flüchtlingsstatus, sondern bekommen nur vorläufigen Schutz. Von „Sicherheit“ kann man da kaum reden.
In den türkischen Kurdengebieten hat wegen der Kämpfe schon eine halbe Million Menschen ihr Heim verloren. Wie viele werden versuchen, in der EU Asyl zu bekommen?
Demirtas: Im Moment nicht mehr als ein paar Hundert. Aber wenn dieser Krieg weitergeht, kann daraus eine Million werden.
Die EU zögert, den Türken Visafreiheit zu gewähren. Zu Recht?
Demirtas: Letztlich muss das Europäische Parlament darüber entscheiden, und da sieht es für die Türkei im Moment nicht vielversprechend aus. Natürlich bin auch ich für die Reisefreiheit meiner Landsleute. Aber bei uns müssen Demokratie, Rechtsstaat und Frieden herrschen.
Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Regierung in Ankara ist gespannt. Ein Grund ist die Armenien-Resolution des Bundestags. Was sagen die Kurden dazu?
Demirtas: Diese Spannungen sind nur vorübergehend. Zwar hat die Erklärung des Bundestags in der Türkei heftige Kritik ausgelöst – aber am selben Tag gab es deutsch-türkische Gespräche über den Nato-Militärstützpunkt Incirlik. Im Übrigen glaube ich, dass beide Seiten bei dem Thema moralisch keinen festen Boden unter den Füßen haben.
Fühlen Sie sich als Bürger der Türkei durch die Bundestagsresolution beleidigt?
Demirtas: Ich weiß, was der türkische Staat den Armeniern angetan hat, und wir als Land müssen uns dem stellen. Das Osmanische und das Deutsche Reich tragen Schuld an dem Massaker. Die Wahrheit muss ans Licht. Das sollte aber zwischen beiden Ländern nicht Gegenstand politischer Auseinandersetzung sein, und ich bin nicht sicher, dass die Resolution in dem Sinne ein konstruktiver Beitrag war. Ich kann ja verstehen, dass das deutsche Parlament Stellung nimmt. Aber 101 Jahre danach? Ich hoffe, wir müssen nicht solange warten, bis der Bundestag das derzeitige Massaker an den Kurden in der Türkei kritisiert!
Sollte Kanzlerin Merkel härter gegenüber Erdogan auftreten?
Demirtas: Die Türkei ist EU-Beitrittskandidat, zugleich werden dort die Menschenrechte mit Füßen getreten – dazu kann Frau Merkel nicht schweigen.
Kann die EU mit der Türkei im gegenwärtigen Zustand weiter über Mitgliedschaft verhandeln?
Demirtas: Man sollte die Verhandlungen nicht aussetzen. Das sind ja keine Gespräche allein mit Erdogan, sondern mit der ganzen Türkei. Und außerdem bieten sie die Chance, der Demokratie und den Menschenrechten zu helfen.