Düsseldorf/Hattingen. . Heftiger Streit im Landtag über Engpässe an den Grundschulen. Landesregierung weist die Vorwürfe zurück. Eine Schulleiterin berichtet, wo es im Alltag hakt
Schon eine kleine Erkältung kann Andrea Pepping vor große Probleme stellen. Die 52-Jährige leitet die Gemeinschafts-Grundschule Bredenscheid in Hattingen. Sechs Lehrerinnen für 112 Kinder in fünf Klassen – jede Stunde Arbeitskraft ist Spitz auf Knopf fürs Unterrichten eingerechnet. Meldet sich morgens jemand verschnupft krank, gerät das System aus den Fugen: Mal muss eine Lehrerin zwei Klassen gemeinsam unterrichten, mal wird die Sonderpädagogin von der Förderhilfe abgezogen. Pepping: „Fällt jemand kurzfristig aus, haben wir ein Problem. Wir haben keine Reserve für Vertretungsstunden.“
Damit bestätigt die Rektorin eine alarmierende Umfrage unter 1245 öffentlichen Grundschulen in NRW des Pädagogenverbands Bildung und Erziehung (VBE). Danach fehlen 2400 Grundschul-Lehrerstellen, die Klassen seien zu groß, Flüchtlingskinder sowie Kinder mit Behinderungen bekämen nicht die nötige Förderung, die Schüler weniger Unterricht als etwa in Bayern. Die Landesregierung, so der Vorwurf, behandle die Grundschule „wie ein Stiefkind“.
Im NRW-Landtag war diese Umfrage gestern Thema einer hitzigen Debatte: Die Opposition nutzte eine Aktuelle Stunde, um mit der Schulpolitik der Landesregierung abzurechnen. CDU-Fraktionschef Armin Laschet packte die Regierung an einer empfindlichen Stelle: bei ihrem Herzensthema Kinder- und Jugendförderung.
FDP-Fraktionschef: NRW biete „null Chancen“
„Wenn es stimmt, dass ein Grundschüler in NRW nach vier Jahren ein halbes Jahr weniger Unterricht hat als ein Grundschüler in Bayern, ist das Kinder zurücklassen in der schlimmsten Form“, schimpfte Laschet. FDP-Fraktionschef Christian Lindner sagte, bei der Ausstattung der Schulen liege NRW auf Platz 16 von 16 Ländern. NRW habe nicht nur „null Wachstum“, es biete auch „null Chancen“.
Grünen-Schulexpertin Sigrid Beer nannte es unverschämt, Grundschulen als Stiefkinder der Regierung zu bezeichnen. In den vergangenen sechs Jahren seien mehrere Milliarden Euro zusätzlich in Kitas, Schulen und Hochschulen geflossen. „Keine Landesregierung hat in der Vergangenheit mehr in die Grundschulen investiert als diese“, versicherte auch NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne). Die Aussage, NRW-Grundschüler bekämen weniger Unterricht als Kinder anderer Bundesländer, sei falsch. Unter Rot-Grün seien Tausende zusätzliche Lehrerstellen geschaffen worden.
Ausgefallene Stunden besser erfassen
NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) wies die Forderung zurück, ausgefallene Unterrichtsstunden täglich digital zu erfassen. Mit einem „Klick“ sei dies nicht zu leisten. „Wir brauchen kein System mit mehr Bürokratie ohne echten Nutzen.“
Kraft kündigte aber an, dass Unterrichtsausfall künftig präziser erfasst werden soll.
Vom Verband VBE hieß es, zwar seien tatsächlich mehr Stellen geschaffen worden. Gleichzeitig seien aber auch die Belastungen für die Lehrer gestiegen, und die Mittel reichten nicht aus, um die Aufgaben zu bewältigen.
Lehrer haben immer mehr Aufgaben
Die Anforderungen an einen Lehrer steigen, sagt auch Andrea Pepping, die Rektorin der Gemeinschafts-Grundschule in Bredenscheid. Ihre Liste an Beispielen ist lang.
Lernschwächen etwa beim Lesen oder Schreiben würden häufiger, so dass zwei Lehrer im Klassenzimmer nötig seien. Viele Kinder bräuchten mehr Sportförderunterricht, weil sie motorische Defizite haben. An der Grundschule gibt es 16 Kinder mit Förderbedarf. Die Sonderpädagogin kommt aber nur zwölf Stunden in der Woche. „Zu wenig“, sagt Pepping. Ein weiteres Kind mit Förderbedarf kommt nach den Ferien – in einer Klasse von 29 Schülern. Auch für die fünf Flüchtlingskinder fehle die Betreuungszeit, Deutschförderunterricht erhielten sie von ehrenamtlichen Helfern.
Krankheitslisten fürs Schulamt
Von mangelnder Zeit für Elterngespräche und Sonderaufgaben wie Streitschlichtung will die Rektorin gar nicht anfangen – oder etwa von ihren eigenen Aufgaben: Da werden neuerdings Krankheitslisten fürs Schulamt geführt, mit dem Förderverein über Gelder für ein neues Spielgerät gesprochen. Das Schulsekretariat ist nur sechs Stunden in der Woche besetzt.
Fällt dann auch noch eine Lehrerin langfristig aus, gebe es zwar auf Schulamtsebene Vertretungslehrer. Diese seien aber oft schon an anderen Schulen eingesetzt. Zwei dieser Pädagogen unterrichten derzeit sogar in Bredenscheid.
Pepping sagt offen: „Ich kommen an meine Belastungsgrenze.“ Dennoch mache sie ihre Arbeit gern. „Wir haben ein tolles Team, in dem jeder anpackt, und engagierte Eltern.“ 2016 wollen sie gemeinsam ein neues Kapitel in der Schulgeschichte aufschlagen: „Wir werden eine offene Ganztagsschule.“