Berlin. Fast einstimmig nennt der Bundestag die Tötung der Armenier vor 100 Jahren Völkermord. Die Türkei reagiert wie erwartet verschnupft.
Selten herrscht so viel Einigkeit im Bundestag. Fast einstimmig votierten die Abgeordneten am Donnerstag für die Armenien-Resolution. Diese bezeichnet die Tötung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern durch das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg als Völkermord. Es gab nur eine Neinstimme und eine Enthaltung. Bundestagspräsident Norbert Lammert sprach von einer „bemerkenswerten Mehrheit“. Nach der Abstimmung gab es aber diplomatischen Streit mit Ankara. Die Türkei wehrt sich entschieden gegen Ausdrücke wie Massenmord.
Die Debatte
Abgeordnete aller Fraktionen betonten die Mitschuld des Deutschen Reiches am Genozid. So bescheinigte etwa SPD-Schatzmeister Dietmar Nietan dem Deutschen Reich „zynische Menschenverachtung“. Nach seiner Meinung geht es in der Armenien-Resolution nicht darum, die Türkei anzuklagen – sondern um „eine Verneigung vor den Opfern“. Grünen-Chef Cem Özdemir sieht es als historische Verpflichtung, Türken und Armenier zur Versöhnung zu ermuntern. Er gebe den heute lebenden Türken keine Schuld an dem Genozid, aber eine Verantwortung – ähnlich wie die Verantwortung der heute lebenden Deutschen für die Schoah. Und Unionsfraktionsvize Franz-Josef Jung (CDU) betonte: „Wir verkennen nicht die Einzigartigkeit des Holocaust.“ Hans-Peter Uhl (CSU) sagte während der Aussprache, man wolle der Opfer gedenken, ohne andere in eine Schuldrolle drängen zu wollen. Er habe Respekt vor dem großen türkischen Volk.
Die historischen Hintergründe
Zwischen 1915 und 1916 begingen die Osmanen einen Völkermord an den Armeniern. Die Türkei ist der Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches – eine Aufarbeitung des Genozids findet bis heute nicht statt. Bis zu 1,5 Millionen Menschen, so schätzen Historiker, kamen bei dem Genozid ums Leben. Die Osmanen warfen den Armeniern vor, im Ersten Weltkrieg mit dem Gegner Russland kollaboriert zu haben. Die Resolution des Bundestages betont auch die Mitschuld des Deutschen Kaiserreichs. Unter anderem heißt es: „Der Bundestag bedauert die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches.“ Das Deutsche und das Osmanische Reich waren im Ersten Weltkrieg enge Verbündete.
Die Reaktion der Türkei
Ankara empfindet die Resolution als Beleidigung. Entsprechend heftig war die Reaktion. Der türkische Botschafter in Deutschland wurde zu Konsultationen nach Ankara gerufen. Zudem könnte der Flüchtlingspakt zwischen EU und Türkei platzen – das ist aber bisher noch nicht der Fall. Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte, durch die Verabschiedung der Resolution seien die deutsch-türkischen Beziehungen ernsthaft beschädigt worden. Außenminister Mevlut Cavusoglu schrieb auf Twitter, mit der Resolution solle die eigene dunkle Vergangenheit verschleiert werden.
Wer bei der Debatte fehlte
Die Spitzen der Koalition waren nicht im Bundestag – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Vizekanzler Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (beide SPD) fehlten. Sie waren wegen anderer Termine verhindert. Steinmeier, der nicht von Völkermord spricht, befindet sich etwa auf einer Lateinamerika-Reise. Merkel betonte nach der Abstimmung die engen Verbindungen zur Türkei. Der CDU-Abgeordnete Jürgen Klimke sagte dieser Redaktion, er hätte eine namentliche Abstimmung besser gefunden. „Das hätte dann auch zu einer Präsenz der jetzt nicht anwesenden Regierungsmitglieder geführt.“
Wer nicht zugestimmt hat
Mit Nein gestimmt hat Bettina Kudla (CDU) aus Leipzig. Sie begründet das in einer Erklärung so: Es sei nicht Aufgabe des Bundestages, „historische Bewertungen von Ereignissen in anderen Staaten vorzunehmen“. Sie sorgt sich um den „Vollzug des Flüchtlingsabkommens“ und erkennt „nicht zwingend eine deutsche Mitverantwortung“ an den Geschehnissen. Enthalten hat sich Oliver Wittke aus Gelsenkirchen. Der CDU-Abgeordnete nennt in seiner Erklärung die Vertreibung und Ermordung der Armenier „eines der großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts“. Konsequenzen werde die Türkei aber nicht ziehen „aufgrund von Resolutionen ausländischer Parlamente“.
Was die Experten sagen
Burak Copur, Politikwissenschaftler und Türkeiexperte an der Universität Duisburg-Essen, sieht das kritisch. „Es herrscht in der Türkei noch immer die paranoide Vorstellung, dass die Armenier und andere Minderheiten die Türkei mithilfe der Europäer spalten wollen“, sagte Copur. Mit der Verabschiedung der Resolution steuerten die deutsch-türkischen Beziehungen weiter auf eine schwere Krise zu. „Es ist nicht abschätzbar, was noch kommen wird, denn das Erdogan-Regime handelt zunehmend irrrational.“