Berlin. Der Bundestag will die Vernichtung von Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord verurteilen – und trifft auf scharfen Protest.

Gut 100 Jahre nach der Vertreibung und Vernichtung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern aus dem Osmanischen Reich will der Bundestag am Donnerstag die Massaker offiziell als Völkermord verurteilen. Von einer historischen Entscheidung ist die Rede – doch im Vorfeld schlagen die Wogen hoch, die Spannungen nehmen zu: Türkische Organisationen in Deutschland machen Druck auf Bundestagsabgeordnete, die türkische Regierung protestiert schon vorab gegen die Resolution. Kippt Ankara am Ende den Flüchtlingspakt?

Scharfe Warnung

Die Botschaft an die Parlamentarier ist scharf und deutlich: Mit der Anerkennung eines Völkermords belaste der Bundestag nicht nur die Beziehungen zwischen beiden Regierungen, heißt es in Massenmails („Protest!“), die türkische Organisationen zu Tausenden an die Fraktionen verschicken ließen und die unserer Redaktion vorliegen. Der Beschluss wäre auch „Gift für das friedvolle Zusammenleben“ von Deutschen und Türken – hierzulande, aber auch in der Türkei. Warnend geht es weiter: „Allein in der Region Antalya leben über 30.000 ausgewanderte Deutsche.“ Ein breites Bündnis türkischer Organisationen hat erst am Wochenende bei einer Demonstration in Berlin den Bundestag aufgefordert, auf die Resolution zu verzichten: Es sei nicht Sache des Parlaments, die Ereignisse während des Ersten Weltkrieges zu beurteilen. Die Organisationen protestierten zudem in einem vierseitigen Brief an alle Abgeordneten gegen die Pläne: „Der Beschluss würde die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei tiefstens erschüttern“, heißt es in dem Schreiben, das unserer Redaktion vorliegt. Protestschreiben vor Parlamentsentscheidungen gebe es nicht zum ersten Mal, heißt es aus den Fraktionen, doch seien diese Interventionen emotionaler als sonst.

Druck auf Abgeordnete

Gezielt wurden in den vergangenen Wochen einzelne der elf türkischstämmigen Abgeordneten angegangen, die Resolution abzulehnen. „Das ist ein Druck, wie wir ihn nicht für möglich gehalten haben“, erzählen Eingeweihte. Einige Abgeordnete wie der Dortmunder SPD-Politiker Mahmut Özdemir haben inzwischen angekündigt, sie würden der Abstimmung am Donnerstag fernbleiben. Grünen-Parteichef Cem Özdemir, der die Resolution mitinitiiert hat, berichtet von zahlreichen Beschimpfungen (Nazi, Armenierschwein) auch übers Internet. Dort kursieren Schmähungen, auf denen Özdemir mit Hitlerbärtchen gezeigt wird. Die Fraktionsspitzen und die Mehrzahl der Abgeordneten sind aber bemüht, nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen. „Über die Resolution wird seit einem Jahr diskutiert, die Argumente sind ausgetauscht, da lässt sich von so was niemand beeindrucken“, heißt es in der Koalition. Und schließlich macht umgekehrt die armenische Lobby Druck, der Resolution zuzustimmen.

Zweck der Resolution

Über den Beschluss debattiert der Bundestag schon seit einem Jahr. 2015 war es 100 Jahre her, dass die Vertreibung der Armenier aus Anatolien begann, das war Anlass für die Beschäftigung mit dem Thema. Durch die Vertreibung und Vernichtung sind bis zu 1,5 Millionen Menschen gestorben. Armenien und viele internationale Historiker stufen die Verbrechen als Völkermord ein – so soll es jetzt auch der Bundestag tun: Union, SPD und die Grünen haben sich auf eine Resolution verständigt, in der das Wort „Völkermord“ viermal vorkommt, auch schon gleich in der Überschrift. Die Linke will dem Antrag zustimmen. Das Schicksal der Armenier stehe „beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gekennzeichnet ist“, heißt es in dem Antrag, den am Dienstag erst noch die Fraktionen förmlich absegnen müssen.

Schon im vergangenen Jahr hatten Bundespräsident Joachim Gauck und Bundestagspräsident Norbert Lammert von Völkermord an den Armeniern gesprochen – schon damals unter Protest der Türkei. Der Parlamentsbeschluss aber wurde wegen Bedenken des Auswärtigen Amts und des Bundeskanzleramts mehrfach verschoben: Die Verhandlungen mit der Türkei über den Flüchtlingspakt sollen nicht gefährdet werden. Die Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, Michelle Müntefering (SPD), sagte unserer Redaktion: „Diese Resolution macht kein Gesetz, keine Vorgabe, sondern sie soll ein Signal aussenden: Geht kritisch mit eurer Geschichte um. Schaut, was in der Vergangenheit passiert ist, damit die Zukunft Versöhnung findet.“ Dafür sei allerdings die Bereitschaft der Menschen notwendig, die der Bundestag nicht erzwingen könne: „Deswegen müssen wir diesen Prozess mit Bedacht unterstützen und den Frieden betonen, nicht den Zwist.“ Die Resolution, räumt Müntefering ein, werde nicht nur in der türkischen Regierung, sondern auch in großen Teilen der türkischen Bevölkerung und auch unter vielen Deutschtürken kritisch betrachtet.

Reizwort „Völkermord“

Auch wenn die Verfolgung von Minderheiten in der Geschichte immer wieder vorkam, ist der juristische Begriff „Völkermord“ verhältnismäßig neu. Als Folge des Holocausts verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1948 das „Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“. Erst die im Januar 1951 in Kraft getretene Konvention machte den Genozid zum völkerrechtlichen Straftatbestand. Gemäß Artikel 2 der UN-Konvention handelt es sich um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, „begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören“. Dabei geht es nicht nur um systematisches Töten, sondern auch um die vorsätzliche Verschlechterung von Lebensbedingungen sowie um Zwangsabtreibungen oder -adoptionen. Auch wenn der Begriff „Völkermord“ an das millionenfache Morden des Naziregimes erinnert, spielt die Zahl der Opfer gemäß Konvention keine Rolle.

Ankaras Antwort

Die türkische Regierung kritisiert die Pläne. Es sei nicht Aufgabe von Parlamenten, sondern von unabhängigen Historikern, die Vorgänge von damals aufzuklären, sagte der Vizeministerpräsident und Regierungssprecher Numan Kurtulmus. Premier Binali Yildirim sagte, die Resolution enthalte „ungerechte und grundlose“ Anschuldigungen.

Mögliche Folgen

Stimmt der Bundestag mehrheitlich für die Resolution, würde das den Graben zwischen Ankara und Berlin weiter vertiefen und die Rhetorik verschärfen. Der türkische Botschafter in Berlin wird möglicherweise für einige Zeit „zur Berichterstattung“ nach Ankara zurückgerufen. So machte es das türkische Außenministerium bereits im April 2015 mit dem Botschafter in Wien. Das österreichische Parlament hatte die Verfolgung der Armenier zuvor als Völkermord eingestuft. Das Gleiche passierte 2011 dem türkischen Botschafter in Paris. Es kam zu heftigen türkisch-französischen Turbulenzen, als die Nationalversammlung in Paris ein Gesetz billigte, das die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern unter Strafe stellte. Zudem durften französische Militärflugzeuge nicht mehr in der Türkei landen.

Der Flüchtlingspakt

Eine Aufkündigung des Flüchtlingspakts durch die Türkei erwarten europäische Diplomaten in Ankara nicht. Die Drohungen der türkischen Regierung dürften nicht überbewertet werden, heißt es. Kippt Erdogan den Pakt, müsste er nicht nur das politische Prestigeprojekt Visafreiheit für Türken in EU-Ländern sowie die versprochenen Brüsseler Hilfsgelder von sechs Milliarden Euro abschreiben. Er würde damit sein Land auch außenpolitisch noch mehr isolieren.