Essen. . Städte wollen Tabletten vorsorglich an Bevölkerung verteilen. Nur so sei ein rechtzeitiger Schutz gesichert. Studie unterstützt diese Forderung.
Als bekannt wurde, dass die belgischen Behörden ab 2017 die gesamte Bevölkerung mit Jodtabletten zum Schutz gegen radioaktive Strahlung versorgen wollen, schrillten im grenznahen Aachen die Alarmglocken. Es kam dort an wie das Eingeständnis, dass die Belgier selbst mit einem ernsthaften Störfall ihrer Atomreaktoren in den Kraftwerken Tihange bei Lüttich oder Doel nahe Antwerpen rechnen würden.
„Die Entscheidung bestätigt unsere Sorge“, sagte Helmut Etschenberg, Städteregionsrat der Städteregion Aachen. „Offensichtlich gibt es nun auch auf belgischer Seite erhebliche Vorbehalte, was die Sicherheit der Kraftwerksblöcke betrifft.“ Kurz zuvor hatte die belgische Atomaufsicht noch brüsk die Bitte von Bundesumweltminister Barbara Hendricks (SPD) zurückgewiesen, die Reaktoren vorläufig abzuschalten.
Das Misstrauen wächst
Das Misstrauen gegenüber den belgischen Alt-Reaktoren aber wächst nach zahlreichen Pannen und Abschaltungen weiter. Am Wochenende erst warnten Mediziner des internationalen Netzwerks „Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“ (IPPNV) bei ihrer Jahrestagung in Mönchengladbach vor den möglichen Folgen eines schweren Atomunglücks in Belgien.
Die Reaktoren Tihange und Doel seien „eine reale Gefahr“ für rund drei Millionen Menschen im Dreiländereck Deutschland-Belgien-Niederlande. Die Mediziner mahnten einen koordinierten Notfallplan an, der alle betroffenen Länder und Gemeinden umfassen müsse. Die NRW-Landesregierung fordert seit langem die Abschaltung der „Bröckel-Reaktoren“, wie Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) die Anlagen nannte.
Hunderttausende Tabletten nötig
Nach den neuen Richtlinien der Strahlenschutzkommission müssen nun alle Kommunen Jodtabletten zum Schutz der Schilddrüse für Kinder, Jugendliche und Schwangere bereithalten. Da dies bislang nur innerhalb eines 100-Kilomter-Umkreises um ein Kernkraftwerk galt, müssen Kommunen mit Hunderttausenden Tabletten nachbeliefert werden. Grundsätzlich dürfen die Städte nun auch die Tabletten direkt an die Bevölkerung weitergeben, sofern eine sichere Verteilung gewährleistet sei.
Unterstützung für ihre Forderung nach einer Vorabverteilung der Jodtabletten erhalten die Städte durch eine Studie des Umweltinstituts München, das die Jodversorgung der Bundesländer im atomaren Ernstfall untersucht hat. Einige Bundesländer haben demnach Jodtabletten bereits vorab an die Bürger verteilt. Hessen zum Beispiel in einem Fünf-Kilometer-Umkreis, in Baden-Württemberg in einem Radius von zehn Kilometern.
Praktische Probleme der Verteilung
Dort sei die rechtzeitige Einnahme der Tabletten in aller Regel gewährleistet, sofern die Bevölkerung rechtzeitig alarmiert werde, urteilt das Umweltinstitut. „Problematischer ist die Situation in Bundesländern, die keine Vorverteilung durchführen“, so die Studie. Wie bisher NRW und Bayern. Hier müsse die Abgabe der Mittel „innerhalb von möglichst zwei bis vier Stunden“ erfolgen.
Eine Verteilung durch die Behörden würde im Notfall aber auch ganz praktische Probleme verursachen. Zu erwarten wäre ein Verkehrschaos in den betroffenen Gebieten, die Bevölkerung müsste zur nächsten Ausgabestelle gehen, um „sich brav hinten anzustellen und nach dem Erhalt der Tabletten wieder nach Hause zu gehen“. Dieses Szenario sei unrealistisch und widerspreche zudem der Anordnung, im Katastrophenfall im Haus zu bleiben, um sich vor der radioaktiven Wolke zu schützen, ergab die Studie. Argumente, die vermutlich auch die Landesregierung zum Einlenken bewogen haben.
So schützt Jod vor Radioaktiver Strahlung
Bei einem Kraftwerksunfall entstehen mehrere radioaktive Varianten (Isotope) von Jod. Der Körper speichert es in der Schilddrüse, wo es umliegende Zellen verstrahlt. Dies kann zu Krebs führen. Ist die Schilddrüse zuvor durch ausreichend Jod geschützt, kann sie kein radioaktives Jod mehr aufnehmen. Das bezeichnet man als Jodblockade.
Menschen über 45 sollten kein Jod einnehmen. Das Risiko einer Überfunktion durch das zusätzliche Jod sei größer als das einer Strahlenerkrankung, erklären Mediziner. Umweltschützer kritisieren die Verteilung von Jod als Pseudosicherheit. Gegen die Folgen einer starken radioaktiven Verstrahlung könne man keine Tabletten einnehmen.