Berlin. Finanzminister Schäuble fordert eine längere Lebensarbeitszeit. Protest vom Koalitionspartner SPD lässt nicht lange auf sich warten.
Die Insel Schwanenwerder im Berliner Wannsee ist eine der exklusivsten Adressen der Hauptstadt. Viel Grün, Wasser, Ruhe. Ausgerechnet hier, in der Repräsentanz des Werkzeugindustriellen Reinhold Würth, machte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) jetzt einen brisanten Rentenvorstoß: Die Deutschen sollten länger arbeiten, fordert der Minister – und löst prompt eine neue Debatte aus.
Was will Schäuble?
Eine genaue Altersgrenze nennt er nicht, aber der Rentenbeginn soll schrittweise von den bereits beschlossenen 67 Jahren in Richtung 70 Jahre gehen. Es mache relativ viel Sinn, die Lebensarbeitszeit und die Lebenserwartung in einen fast automatischen Zusammenhang auch in der Rentenformel zu bringen, sagte der CDU-Politiker. Schäuble, der mit seinen 73 Jahren noch einen stressigen Ministerjob ausfüllt, verweist auf die Alterung der Gesellschaft.
Die Altersgrenze sollte auch stärker flexibilisiert werden. Zudem müsse das Erwerbspotenzial in Deutschland erhöht werden. Schäubles Zuhörer beim „Schwanenwerder Dialog“ in der Würth-Repräsentanz waren ganz bei ihm: Er sprach vor dem „Konvent für Deutschland“, der unter Vorsitz von Altbundespräsident Roman Herzog seit Jahren für Sozialreformen wirbt. Die Vereinigung warnt wegen der Alterung der Gesellschaft schon vor einer „Demokalypse“. Auch Schäuble sagte: „Wir müssen uns auf die demografische Entwicklung vorbereiten“.
Hat Schäuble Verbündete?
Ja. Aus Teilen der Union gibt es klare Unterstützung. EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) wird bereits präzise: „Wir haben einen Fachkräftemangel und müssen in den nächsten Jahren über die Rente mit 70 sprechen“, sagte Oettinger dieser Zeitung. „Wir müssen Menschen mit beruflicher Weiterbildung fit machen für eine längere Lebensarbeitszeit.“ Auch der CDU-Wirtschaftsrat ist dafür und der Nachwuchsverband Junge Union, der gerade erst in einem Schreiben an Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) eine schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters gefordert hat. Eine Reihe von Wirtschaftsprofessoren wirbt seit Jahren für die Rente mit 70. Der Chef des Ifo-Instituts Clemens Fuest, der die Regierung berät, erklärt: „Es sollte zulässig sein, erst mit 70 in Rente zu gehen. Wer früher gehen will, sollte entsprechende Abschläge hinnehmen.“ Und schließlich rät aktuell auch die OECD dazu, das gesetzliche Renteneintrittsalter weiter anzuheben – gekoppelt an die Lebenserwartung.
Arbeiten wir nicht sowieso länger?
Ja. Das Renteneintrittsalter, das bis 2012 bei 65 Jahren lag, steigt bis 2030 bereits auf 67 Jahre. Aktuell ist der reguläre Wechsel in den Ruhestand mit 65 Jahren und vier Monate möglich. Die Begründung für dieses Gesetz ist dieselbe wie in der aktuellen Debatte: Die Rente muss von immer weniger Beitragszahlern finanziert werden – eine steigende Lebenserwartung von immer mehr Rentnern stehen sinkenden Geburtenzahlen gegenüber. Langfristig senkt die Rente mit 67 den Beitragssatz um einen Prozentpunkt.
Reicht die Rente mit 67 nicht?
Die Befürworter der Rente mit 70 argumentieren, die Alterung der Gesellschaft gehe auch nach 2030 rasant weiter. Schon 2040 wird die Zahl der über 65-Jährigen von heute 17,3 auf 24,3 Millionen zunehmen, während die Zahl der 15-64-Jährigen von 54,6 auf 42,5 Millionen zurückgehen wird. 2060 wird jeder Dritte älter als 65 Jahre sein. Entweder werden die Rentenbeiträge dann deutlich steigen – oder die Rentenzahlungen weiter sinken. Ifo-Chef Fuest sagt, ohne neue Reformen würden die Rentenausgaben bis 2060 um mindestens 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zulegen, „was die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen beeinträchtigen würde“. Eines der Gegenmittel wäre ein weiter steigendes Renteneintrittsalter. Wie schnell es dann bis 70 heraufgehen würde, ist unklar. Die Junge Union hat ein Modell entwickelt, mit dem diese Altersgrenze erst im Jahr 2100 erreicht wäre. Ihre Rechnung: „Wenn für die Menschen der Jahrgänge 1980 bis 1990 eine höhere Lebenserwartung von 2,5 Jahren prognostiziert wird, als in der Dekade davor, soll ihr Renteneintrittsalter um ein Viertel, sprich um 7,5 Monate erhöht werden“.
Was sagen die Kritiker?
Die SPD-Spitze widerspricht Schäuble deutlich: „Herr Schäuble spekuliert über das Renteneintrittsalter ab 2029. Damit drückt er sich um die Antworten von heute“, sagte Generalsekretärin Katarina Barley dieser Zeitung. „Viele Menschen fragen sich, ob sie ihren Beruf überhaupt bis zum Rentenalter ausüben können und ob ihre Rente dann zum Leben reicht.“ Es gehe darum, mehr reguläre sozialversicherte Beschäftigung zu schaffen. „Diese Stärkung haben unsere Sozialversicherungen dringend nötig.“ Der DGB wirft dem Finanzminister ein „billiges Ablenkungsmanöver“ vor. Ein höheres Rentenalter mache die Rente nicht zukunftsfähig, erklärte DGB-Vorstand Annelie Buntenbach. Jede Anhebung sei „de facto eine verdeckte Rentenkürzung, denn damit steigt auch die Zahl jener, die vorzeitig mit höheren Abschlägen aus dem Erwerbsleben ausscheiden – weil sie schlicht nicht gesund sind und es nicht bis zur Rente schaffen.“ Ein höheres Renteneintrittsalter führe automatisch zu noch mehr Armut im Alter. Kritiker verweisen darauf, dass selbst das Rentenalter von 65 Jahren von vielen nicht erreicht werde – weil Ältere ausgebrannt seien oder gar keine Chance am Arbeitsmarkt hätten. Die Erwerbstätigenquote der 60- bis 64-Jährigen ist zwar gestiegen, liegt aber trotzdem bei nur 53 Prozent. Linken-Fraktionschefin Sarah Wagenknecht warf Schäuble deshalb „Rentenklau“ vor. „Wer arm ist, stirbt früher, und wer einen harten Job hat, kann nicht bis 70 arbeiten.“ Schäuble wolle Millionen Menschen um ihren wohlverdienten Ruhestand bringen.
Ist die Rente mit 70 durchsetzbar?
Vorerst sicher nicht. Arbeitsministerin Nahles (SPD) ließ am Donnerstag klarstellen: „Das steht nicht zur Debatte. Das ist kein abgestimmter Vorschlag.“ Schäuble zielt mit seinem Vorstoß aber auch nicht auf eine schnelle Gesetzesänderung – die ist in den nächsten Jahren sowieso nicht notwendig. Schon die Rente mit 67 stellt Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den nächsten Jahren noch vor immense Herausforderungen – ältere Beschäftigte müssen weitergebildet, der Gesundheitsschutz im Job verbessert werden.
Und wenn ich bis 70 arbeiten will?
Dann geht das auch heute, vorausgesetzt der Arbeitgeber spielt mit. Aktuell geht jeder siebte der 65- bis 69-Jährigen einer bezahlten Arbeit nach, überwiegend allerdings in Minijobs. Die Koalition will mit einer „Flexi-Rente“ das Arbeiten über die Altersgrenze hinaus attraktiver machen, etwa indem sich die Rentenansprüche weiter erhöhen können. FDP-Chef Christian Lindner verlangt mehr: „Wir brauchen mehr Flexibilität beim Renteneintritt“, sagte er dieser Zeitung. Die Menschen sollten selbst entscheiden:. „Wer früher geht, bekommt weniger. Wer länger arbeitet, bekommt mehr.“