An Rhein und Ruhr/Paris. Immer mehr Kinder und Jugendliche in NRW sind auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Gerade in einigen Großstädten an Rhein und Ruhr gab es Zuwächse.

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind, nimmt in Nordrhein-Westfalen weiter zu. Nach Berechnungen des Bremer Institutes für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) lebten im Dezember 2015 insgesamt 459 687 Mädchen und Jungen bis 15 Jahre in Haushalten, die Hartz IV-Leistungen erhalten – das war etwa jedes fünfte Kind (19,5%) dieser Altersgruppe insgesamt. Ein Jahr zuvor waren es 445 500 gewesen. Das BIAJ stützt sich auf Zahlen der Arbeitsagentur. Gerade in einigen Großstädten an Rhein und Ruhr gab es deutliche Zuwächse. In Gelsenkirchen sind sogar fast 40% der Kinder auf Hartz IV angewiesen, in Essen war es mehr als jedes dritte.

Manfred Rekowski, der Präses der evangelischen Kirche im Rheinland, nannte die Zahlen gegenüber dieser Redaktion „bedrückend“: „Zufriedenstellende Ergebnisse der Prävention gegen Kinderarmut stehen noch aus“, so Rekowski. Er mahnte, in der Debatte um bessere Betreuung und Bildung, existenzsichernde Arbeit für Eltern und finanzielle Grundsicherung der Kinder dürfe es nicht um Parteienprofilierung gehen. Die rheinische Kirche habe sich wiederholt positioniert, eigenständige Rechte der Kinder ebenso eingefordert wie darauf hingewiesen, dass Kinderarmut und Familienarmut nicht voneinander zu trennen seien.

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Experten tun sich schwer, den neuen Anstieg bei der Zahl der auf Hartz IV angewiesenen Kinder zu erklären. Sie verweisen - zumindest teilweise - auf die Bevölkerungsentwicklung. Auffällig ist, dass der Anteil der Kinder, die auf Hartz IV angewiesen sind, in keinem westdeutschen Flächenland so groß ist wie in NRW – selbst in einigen ostdeutschen Ländern wie Thüringen liegt der Anteil niedriger (was vor einigen Jahren anders war). Martin Debener vom Wohlfahrtsverband „Der Paritätische“ sieht ein besonderes Strukturproblem in NRW (viele Migranten, viele Alleinerziehende, viel Stadtbevölkerung). Dringend müsse das Bildungs- und Teilhabepaket überarbeitet werden, das Kinder aus Familien mit geringem Einkommen unterstützen soll.

Deutliche regionale Unterschiede

Die Statistik, die das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) auf Basis von Daten der Arbeitsagentur zusammengestellt hat, zeigt deutlich: Nach einem Rückgang in den Jahren 2011 und 2012 auf 428 485 Mädchen und Jungen, steigt die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in NRW auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen ist, wieder stetig an. „Es gibt aber sehr deutliche regionale Unterschiede“, berichtet Paul M. Schröder vom Institut.

Unterschiede, welche die wirtschaftliche und die Arbeitsmarktlage im Land widerspiegeln: Trauriger Spitzenreiter ist Gelsenkirchen, wo mit 13 748 Mädchen und Jungen fast 40% aller Unter-15-Jährigen in Haushalten leben, die Unterstützung erhalten. Unter den Städten, die folgen, sind eine ganze Reihe Revierkommunen, die Arbeitslosigkeit ist in der Region hoch. In Coesfeld hingegen, also im auf Vollbeschäftigung zusteuernden Münsterland, sind es 2396 Kinder und Jugendliche – 7,9% der Altersgruppe. Alle anderen Städte und Kreise liegen dazwischen.

Experte: Angebote besser vernetzen

Verbände und Initiativen, die sich an Rhein und Ruhr vor Ort um die Kinder und deren Familien bemühen, sehen die Entwicklung mit Sorge. In Mülheim etwa warnt Ulrich Schreier, der Geschäftsführer des Diakoniewerks Arbeit und Kultur: „Es gibt die große Gefahr, dass sich das Leben in prekären Verhältnissen vererbt.“ Er habe das Gefühl, dass „manche in der Politik schon akzeptiert haben, dass Teile der Bevölkerung dauerhaft in diesen Verhältnissen leben“, fürchtet Schreier.

Und in Moers berichtet der 1. Vorsitzende des Vereins Klartext für Kinder, Hans-Dieter Wichert: „Alleinerziehende Mütter wenden sich verstärkt an uns – hauptsächlich wegen Kleidung und Möbeln. Mittlerweile erreichen uns pro Woche über zehn Anträge“ – etwa 80% mehr als noch vor einem Jahr.

Bisher, so Wichert weiter, habe man noch keinen Antrag abgelehnt. Künftig müssen wir uns aber Gedanken machen – etwa, wenn es darum geht, Leute mehrmals im Jahr zu bedienen. Bei Klartext für Kinder engagieren sich Menschen aus Moers und Umgebung für Kinder aus sozial schwachen Familien. Der Verein geht zurück auf eine Initiative von NRZ und Jugendamt.

"Auf dem Land hilft man sich eher"

Dass ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen so viele Kinder und Jugendliche auf Hartz IV angewiesen sind, hat nach Ansicht von Martin Debener mit der besonderen Struktur zu tun: „Hier leben zwar 20% der bundesdeutschen Bevölkerung, aber 30% aller Menschen mit Migrationshintergrund und 28% aller Alleinerziehenden“, erklärt der Fachmann vom Wohlfahrtsverband „Der Paritätische“. Sowohl Migranten als auch Alleinziehende gelten als besonders armutsgefährdet. Zudem, so Debener weiter, lebten hier sehr viele Menschen in Städten. Auch die seien besonders gefährdet, in Armut abzurutschen -- „auf dem Land hilft man sich eher.“

Was also tun? Ulrich Schreier von der Mülheimer Diakonie hält frühkindliche Hilfen für besonders wichtig: „Früh heißt hier: direkt nach der Geburt“, so Schreier. Martin Debener vom „Paritätischen“ glaubt nicht, dass es unbedingt mehr Hilfen geben muss, die bestehenden sollten sich aber vernetzen und der Zielgruppe besser bekannt gemacht werden.

Die große Zahl der Kinder, die auf Hartz IV angewiesen ist, nennt Debener „die größte sozialpolitische Herausforderung, die wir im Moment haben.“ Das Bildungs- und Teilhabepaket, das diesen Kindern zum Beispiel das Schulmittagessen oder die Mitgliedschaft im Sportverein ermöglichen soll, sei viel zu bürokratisch, die Hilfe komme nicht an. Beispiel? „Dass Eltern, die teilweise selbst Analphabeten sind, im Jobcenter Anträge stellen müssen, ist ein Irrsinn.“