Düsseldorf. Die Person als Programm, Menschelndes als Masterplan: Seit Köln wirkt die lange so leutselige NRW-Ministerpräsidentin plötzlich wie eingemauert.

Kinder, Kostüme, Küsschen. Es wäre eigentlich einer ihrer Paradetermine. Normalerweise hätte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) kommenden Montag wieder die Kinderprinzenpaare und Dreigestirne aus NRW empfangen. Kraft lebt und liebt Karneval, traf Altweiber 1992 in einem Mülheimer Weinlokal ihren heutigen Mann Udo. Die Regierungschefin verfügt selbst über einen Kostümfundus, mit Kindern kann sie sowieso. Doch die Zeiten sind nicht danach. Am Freitag teilte die Staatskanzlei knapp mit, dass Familienministerin Christina Kampmann „in Vertretung“ die jungen Narren empfange.

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Von Tobias Blasius und Wilfried Goebels

Die Kölner Silvesterexzesse haben das politische „Konzept Kraft“ über Nacht ins Wanken gebracht. Die Person als Programm, Bodenständigkeit statt Botschaften, Menschelndes als Masterplan – all’ das funktioniert plötzlich nicht mehr ohne Weiteres. Kraft kann nicht unbefangen Kinderprinzenpaare bützen oder zur Regierungsroutine übergehen. Das Presseecho war am Freitag so verheerend wie noch nie in ihrer bald sechsjährigen Amtszeit.

Die Landesmutter taucht ab

Der Grund: Kraft war im Winterurlaub, als die ersten Nachrichten von massenhaften sexuellen Übergriffen durch die Republik dröhnten. Sie rang sich erst am 5. Januar zu einer dürren, schriftlichen Stellungnahme gegenüber der örtlichen Regionalzeitung durch – mit der Bitte, diese doch über die Nachrichtenagenturen zu verbreiten. Kein Besuch in Köln, keine Pressekonferenz, keine Initiative zum Opferschutz, keine Fernsehauftritte – als halb Europa über den Kölner Mob debattierte, tauchte die Landesmutter einfach ab.

Selbst der grüne Koalitionspartner stichelt

„Dass die Regierungschefin eine Woche verstreichen ließ, um sich erstmals mit einiger Empathie an die Opfer zu wenden, war nicht nur politisch unklug, es ist einer Ministerpräsidentin schlicht unwürdig“, urteilte der „Kölner Stadtanzeiger“ bitter. Und die „FAZ“ bemerkte, dass Kraft sich offenbar nicht mehr auf ihr bislang so sicheres „Gespür fürs Menschelnde“ verlassen könne. Bei bisherigen Krisen wie der Loveparade-Katastrophe oder dem Absturz der Germanwings-Maschine war es gerade die Stärke der 54-Jährigen, Opfer in den Arm zu nehmen und angemessene Worte zu sprechen.

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Für die Opposition in NRW ist Krafts irritierende Abwesenheit in der wichtigsten Sicherheitsdebatte seit Langem im Vorwahljahr ein Geschenk. „Die politische Identität der Ministerpräsidentin baut sich ja nicht auf Ergebnissen auf, sondern auf dem Image der Kümmerin“, analysierte FDP-Chef Christian Lindner blitzschnell. Der Ruf der Basis- und Bürgernähe hat in nur 14 Tagen schwer gelitten, und niemand in Düsseldorf kann sich recht erklären, wie es soweit kommen konnte.

Zunehmend dünnhäutig

Beobachter registrieren schon länger, dass Kraft auf Kritik zunehmend dünnhäutig reagiert. Für Ratschläge sei sie kaum noch empfänglich. Mit Berlin und der Bundespolitik will sie möglichst wenig zu tun haben, in Düsseldorf macht sie sich aber ebenfalls rar. Sie wirkt zuweilen erschöpft und genervt. Gereizte Auftritte im halböffentlichen Raum häufen sich. Die Opposition hält hinter vorgehaltener Hand bereits Urlaubs- und Krankheitstage der Ministerpräsidentin nach. Ist das alles nur die normale Wagenburg-Mentalität, die Regierende nach längerer Amtszeit häufiger schon mal befällt?

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Selbst der grüne Koalitionspartner wähnt die Ministerpräsidentin inzwischen schlecht beraten. Man habe der anfänglich so charmant-offenen „Chefin“ ein Freund-Feind-Denken eingeredet, mauere sie regelrecht ein in der Staatskanzlei. Kraft verlasse sich nicht mehr auf ihren Instinkt, angemessene Worte zu finden und situativ zu entscheiden. Wenn sie etwas sagen will, dringt sie öffentlich nicht mehr durch. Wenn sie reagieren muss, erklärt sie sich für nicht zuständig. Die Sticheleien richten sich auch gegen ihren Regierungssprecher und Staatssekretär Thomas Breustedt (SPD). In internen Telefon-Konferenzen werde immer häufiger herumgeschrien, Kommunikationspannen häuften sich. Der frühere Boulevard-Journalist gilt seit Jahren als Krafts engster Vertrauter.

Minister Jäger scheint unersetzlich

Krafts zweiter persönlicher Vertrauter im Kabinett ist ausgerechnet der angeschlagene Innenminister Ralf Jäger. Der Duisburger gehört obendrein zu den wenigen Ministern im blassen Landeskabinett, die der NRW-SPD ein Gesicht geben. Jäger hat im Kölner Silvesterskandal keine gute Figur gemacht, müsste nach den Gesetzmäßigkeiten der politischen Verantwortung eigentlich zurücktreten. Doch für Kraft scheint Jäger unersetzlich zu sein. Der Sohn einer Meidericher Wirtin ist ihr seelenverwandt, kann ebenso mit den einfachen Leuten, ist bühnentauglich, aber wortflinker, spielerischer, härter im Nehmen.

Mit neuen Köpfen will Kraft also nicht in die Offensive kommen. Wie aber nach dem verhagelten Jahresstart den Themenwechsel hinbekommen? Die Kümmerin ist in der Klemme. Die Opposition hat am Freitag mit dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den Kölner Silvesterexzessen das schärfste Schwert gezückt. Über Monate sollen nun Zeugen verhört und Akten gewälzt werden, um das Versagen in der Inneren Sicherheit auszuleuchten. Statt Kinderkarneval winkt Kraft die Aussage unter Eid.