Paris. „Bitte keine Panik!“, wurden die Gäste des Stade de France nach den Explosionen beruhigt. Einer der Gäste im Stadion war unser Autor.
Irgendwann in der Nacht, als Paris schon im Schwarz versunken war, verließen wir das Stade de France durch die eisernen Zäune. Auf der Straße stand ein junger Mann. Neben ihm eine Frau. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Er drückte sie an sich.
Es gab da diesen einen Moment, gut eine Stunde zuvor, als alles noch unübersichtlich war und ich tatsächlich glaubte, dass im Bauch der Arena, in der die deutsche Nationalmannschaft soeben 0:2 gegen Frankreich verloren hatte, irgendjemand über Fußball sprechen würde wie immer nach Länderspielen. Als ich die Treppen hinunter zum Presseraum gehen wollte und noch nicht wusste, dass sich offenbar zwei Menschen vor dem Stade de France in den Tod gesprengt hatten und viele von uns vielleicht hatten mitnehmen wollen, da kamen mir plötzlich Menschen ins Angst entgegen gestürmt.
„Bitte bleiben Sie ruhig! Bitte keine Panik“
Die Sicherheitskräfte hatten die Ausgänge versperrt, hieß es. Wir sollten raus auf die Tribüne. Aber wenn dir Leute entgegen gerannt kommen, fragt man sich, ob sie vor jemandem weglaufen. Ich hatte etwas von einer Geiselnahme gehört. Ich dachte an Charlie Hebdo. Wir Journalisten, die sonst zwar über Sport schreiben, aber auch gelernt haben, derart in Geschichten zu denken, dass sie einem nun selbst Angst machten. Die eigene Fantasie. Die Bilder, die man schon kennt. Da war Madrid, da war London, da war der 11. September. Der Einlasser zur Pressetribüne hatte es noch nicht mitbekommen, und wollte meine Eintrittskarte sehen.
Und dann schaute ich runter auf den Rasen, auf dem eben noch ein Spiel stattgefunden hatte. Menschen strömten auf das Grün. „Bitte bleiben Sie ruhig! Bitte keine Panik“, klang auf Französisch über die Stadionlautsprecher. Kein Wort auf Englisch, keines auf Deutsch. Dort unten war eben noch Fußball, und ich hatte hier oben nur gehofft, rechtzeitig meinen Artikel fertig schreiben zu können. Das Seltsame ist ja, dass man es kaum merkt, wenn neben einem die Welt wankt.
In der ersten Halbzeit hatte es zwei Explosionen gegeben. Vielleicht sogar drei. Ich bin mir nicht sicher. So laut, hatte ich das noch nie gehört. Aber ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht, weil ich als Fußballreporter schon oft erlebt hatte, wie Böller in Fanblocks gezündet wurden.
Ab der zweiten Halbzeit kreisen Hubschrauber am Himmel
Neben mir saßen Kollegen, die mit ihren Redaktionen zu Hause telefonierten. „Ein Anschlag in Paris“, hörte ich. „Zwei Tote.“ „Hier nebenan.“ „Hollande evakuiert.“ Ich glaubte noch, dass die sich irren müssen und suchte auf Twitter nach Meldungen. Langsam nur trafen Nachrichten ein. Aber ich dachte an meinen Text.
Mit Beginn der zweiten Halbzeit kreisten Hubschrauber über uns. Man weiß ja, was das heißt. Ich schrieb einfach weiter und weiß nicht mehr was. Die französischen Fans jubelten bei jeder gelungenen Aktion ihrer Mannschaft. Sie sangen: „Allez les Bleus!“ Sie wussten es noch nicht. Auf der Pressetribüne aber gespenstische Stille. Dann war das Spiel aus, die Leute brüllten vor Freude, Manuel Neuer klatschte unten mit irgendjemandem ab.
Und man fragt sich, ob es zwei Welten gibt. Die eine, in der Terror passiert, die andere, in der wir nichts davon wissen, oder es irgendwie verdrängen, um weiter zu machen. Später hörte ich, wie die Mannschaft unter Schock stand, wie sie in der Kabine saß und Angst hatte. Wie sie die ganze Nacht im Stadion verbringen musste und erst am frühen Morgen das Stade de France verlassen konnte. Sie wollte eigentlich erst am Sonntag abreisen. Das wollte nun keiner mehr.
Freunde warnen vor der Fahrt mit der Metro
Wir Journalisten aber wussten nicht, was wir tun sollten. Unten auf dem Rasen standen immer noch Menschen. Knapp 80.000 waren zum Spiel gekommen, keiner wird es je vergessen, dachte ich. Aber dann war da auch das: Ein paar Fans kletterten auf ein Tor und setzten sich auf den Querbalken, wie man es früher tat, wenn der eigene Klub gerade die Meisterschaft gewonnen hatte. Ich dachte: zwei Welten.
Über die Lautsprecher klang: „Bitte verlassen Sie das Stadion nun über die Westtribüne. Es ist jetzt sicher.“ Langsam leerte sich die Arena. Wie ruhig die Leute blieben, dachte ich. Und wie gut die Sicherheitskräfte vor Ort das alles machten. Das Spiel abbrechen können hätten sie nicht. Das hätte Panik gegeben. So wirkte es ein bisschen wie früher, wenn ein Feueralarm in der Schule beendet war und alle geordnet zurück ins Klassenzimmer marschierten, weil man wusste, dass es sich nur um eine Übung gehandelt hatte.
Wir standen immer noch auf der Tribüne und überlegten, wie wir zurück ins Hotel kommen sollten. Die Metro fahre normal, hieß es über die Lautsprecher. „Meide bloß die Metro“, schrieb mir ein Freund aufs Handy. Mein Kopf drehte sich.
In einer kleinen Gruppe aus fünf, sechs Kollegen entschieden wir uns, dass Stadion zu verlassen. Wir wollten ins Hotel. Ich wollte nach Hause. Vorbei kamen wir an dem Mann mit der Frau im Arm und Polizisten mit Gewehren.
Polizisten bewachen die Eingänge zu den Bahnhöfen
Wir liefen zum Bahnhof, knapp 10 Minuten. Keiner wusste, ob da überhaupt noch Zugverkehr war, und ob es überhaupt eine gute Idee war, ins Zentrum der Stadt zu fahren. Nur drei Straßen von dem Ort entfernt, in dem es eine Schießerei in einem Restaurant gegeben hatte, hatten wir am Vorabend in einer dieser niedlichen Pariser Bars gesessen, hatten Bier getrunken, und ich hatte erzählt, dass ich bald Vater werde. Ich konnte jetzt nur noch an zu Hause denken.
Wir standen am Bahnhof La Plaine – Stade de France in St. Denis. Eine Menschenmenge. „Da gehen wir nicht rein“, sagte ein Kollege. „Wir müssen“, sagte ein anderer. „Und was ist, wenn wir laufen?“ Sechseinhalb Kilometer sollten es sein. Durch das Schwarz dieser Stadt und dieses Abends. Wir dachten tatsächlich daran.
Aber dann rollte ein Zug ein, und wir hasteten zum Bahnsteig. Rein da. Tür zu. Stille. Wir fuhren die eine Station bis zum Gare du Nord. Es gibt Leute, die sich in sich kehren, wenn so etwas passiert. Ich bin ein Herdenmensch, habe ich gelernt. Ich laufe hinterher und will nicht allein sein.
Als der Zug in Gare du Nord eintraf und die Türen aufsprangen, stand ein Mädchen vor mir. Sie hatte die französischen Farben im Gesicht und eine blau-weiß-rote Fahne über den Schultern. Sie hatte das Spiel gesehen, und sie hatte geweint. Ich lief an ihr vorbei, hoch auf die Straße, wo sich Polizisten vor dem Eingang des Bahnhofs aufbauten. Wir taumelten raus und liefen in die falsche Richtung. Am Gare de l’Est war Trubel. Autos. Sirenen. Gestern noch hatten wir hier ein letztes Bier für 8,60 Euro getrunken und uns über Preis beschwert. Jetzt war da alles dicht.
In unserem Hotel saßen viele der Gäste in der Lobby und schauten französisches Fernsehen. 100 Tote. 120 Tote. Terror auf dem Bildschirm. Eine entrückte Ruhe da draußen auf der Straße. Gegen drei Uhr schlief ich ein und blieb traumlos. Als ich erwachte war Paris vor meinem Hotelzimmer immer noch da, aber nicht mehr dieselbe Stadt.