Essen. . Der Politikwissenschaftler Burak Çopur hält die Lösung der Kurdenfrage für unerlässlich und kritisiert das türkische Vorgehen gegen die Kurden scharf
Die türkische Luftwaffe hat in den vergangenen Tagen ihre Luftangriffe gegen Stellungen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Süden der Türkei und im Nordirak fortgesetzt. Gleichzeitig kämpfen kurdische Einheiten gegen den sogenannten Islamischen Staat. Der Politikwissenschaftler Burak Çopur hält die Lösung der Kurdenfrage für den Frieden und die Demokratisierung in der Region für unerlässlich.
Herr Dr. Çopur, die Kurden spielen in den gegenwärtigen Konflikten im Nahen Osten eine Schlüsselrolle. Werden sie – zum ersten Mal in ihrer Geschichte – am Ende etwas davon haben?
Dr. Burak Çopur: Ja, davon gehe ich aus. Wir stehen am Wendepunkt in der Kurdenfrage. Es geht längst nicht mehr nur um die kulturellen Rechte von Kurden, sondern mittlerweile um ihre territorialen Autonomierechte. Ich spreche deshalb nicht mehr von der „Kurdenfrage“, stattdessen von einer „neuen Kurdistanfrage“. Das heißt, wie kann zukünftig eine zusammenhängende kurdische Autonomieregion gestaltet werden. Es gibt ja schon jetzt das selbstverwaltete Kurdengebiet im Irak und drei de facto autonome Kantone in Syrien. Das ist ein Novum. Ein Zurückfallen hinter diese Errungenschaften wird es nicht mehr geben. Dessen muss sich auch die internationale Gemeinschaft bewusst sein und gemeinsam mit den regionalen Akteuren Konzepte entwickeln.
Für die Kurden in der Türkei sieht es ganz anders aus. Für sie erhöht sich der Druck, seit der Friedensprozess beendet wurde.
Çopur: Auch in der Türkei gibt es die kurdische Forderung nach regionaler Selbstverwaltung. Der Wahlerfolg der prokurdischen HDP hat gezeigt, dass diese Forderung auf breite Zustimmung stößt. Die international aufstrebenden Kurden sind aber auch der Grund dafür, dass Erdogan den Friedensprozess beendet hat, weil er gesehen hat, dass er die Kurden nicht mehr für die Einführung seines Präsidialsystems instrumentalisieren kann.
Inwiefern hat er die Kurden vorher instrumentalisiert?
Çopur: Die Kurden sollten der Steigbügelhalter für den Erdogan’schen Regimewechsel von einer parlamentarischen Demokratie hin zu einem autoritären Präsidialsystem sein. Die HDP ist aber in diese Falle nicht getappt. Zudem haben selbst viele islamisch-konservative kurdische AKP-Anhänger diesmal für die HDP gestimmt und Erdogans Traum von einer Alleinherrschaft zerstört. Die Rechnung ist also nicht aufgegangen und dafür rächt Erdogan sich jetzt.
Im Westen gibt es zwar viel Kritik am Vorgehen Erdogans gegen die Kurden. Auf der anderen Seite engagiert sich die Türkei jetzt nach langem Zögern im Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“.
Çopur: Es war doch nur ein billiger Taschenspielertrick Erdogans: nach außen so zu tun, als greife er den IS an, um nach innen den eigentlichen Feind – die Kurden – massiv zu bekämpfen. Damit will Ankara auch den Autonomiebestrebungen der syrischen Kurden einen Riegel vorschieben. Mit dieser Unverhältnismäßigkeit des türkischen Militäreinsatzes haben selbst die USA nicht gerechnet. Erst später erkannten sie die Bauernschläue von Erdogan. Es war ein großer Fehler Washingtons, in der Zusammenarbeit mit der Türkei bezüglich der Bekämpfung des IS die Kurdenfrage davon abzukoppeln. Mit diesem Vorgehen ist die Anti-IS-Strategie zum Scheitern verurteilt.
Wieso das?
Çopur: Ohne eine Lösung des Kurdenkonflikts wird es keine effektive Bekämpfung des IS geben. Die Kurden sind ein Bollwerk gegen den Islamismus und auch ihre starke Betonung der Frauenrechte ist für die nahöstliche Region sehr bedeutsam. Letztlich sind die Kurden heute ein wichtiger Garant für die Stabilisierung und Demokratisierung des Nahen Ostens. Der Westen wäre gut beraten, diese Chance nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen und die Kurden als Partner ernst zu nehmen.
In Syrien und im Irak arbeitet der Westen sehr gut mit den Kurden zusammen.
Çopur: Es ist absurd und ein Selbstbetrug der USA, dass sie zwischen den „guten“ Kurden der syrischen PYD beziehungsweise der irakischen Kurdenpartei KDP von Barzani und den „schlechten“ Kurden der PKK unterscheiden. Die PYD ist schließlich die Schwesterpartei der PKK. Doch durch das westliche Wegducken bei der Bombardierung der PKK wird wiederum der Kampf gegen den IS geschwächt. Das hat doch überhaupt keinen Sinn.
...die PKK verübt aber ihrerseits Überfälle auf türkische Sicherheitskräfte.
Çopur: Ja, die PKK trägt eine Mitverantwortung und macht sich zur Wahlkampfhelferin Erdogans, indem sie mit ihren terroristischen Angriffen den türkischen Nationalismus befeuert. Die PKK sollte noch vor den Wahlen am 1. November einen einseitigen Waffenstillstand verkünden. Damit würde sie Erdogan stärker unter Druck setzen, als sinnlos Menschen umzubringen.
Erdogan destabilisiert aber auch die Türkei. Wenn es Anschläge auf Touristenorte geben sollte, würde die türkische Wirtschaft leiden. Warum sollte er dieses Risiko eingehen?
Çopur: Wir wissen aus der eigenen deutschen Geschichte, wie weit Diktatoren gehen können, wenn sie ihren Machtverlust befürchten. Man muss deshalb den Amoklauf Erdogans stoppen. Der Westen hat noch nicht wirklich begriffen, welche Gefahr auch für die Sicherheit Europas von Erdogan ausgeht. Im Moment verhält er sich wie ein „türkischer George W. Bush des Nahen Ostens“ und ist damit bereit, für den Machterhalt sein eigenes Land und die gesamte Region in Brand zu stecken.
Warum gehen die EU und der Westen dann nicht entschlossener gegen Erdogan vor?
Die EU steckt doch in einem Dilemma. Erdogan ist jetzt der Schleusenwärter in der Flüchtlingsfrage, und er kann jederzeit die Flüchtlingsströme Richtung Europa kanalisieren. Die EU sitzt doch wirtschaftlich am längeren Hebel. Warum sich Brüssel von Erdogan so auf der Nase herumtanzen lässt, ist für einen überzeugten Europäer zum Fremdschämen. Die Konflikte im Nahen Osten sind doch jetzt schon in Deutschland angekommen.
Was sollte der Westen jetzt tun?
Çopur Die Absage des für November geplanten G20-Gipfels in Antalya wäre beispielsweise ein gutes Signal. Man sollte mit klugen diplomatischen Instrumenten Druck auf die türkische Regierung und Erdogan ausüben, ohne die Bevölkerung in Mitleidenschaft zu ziehen.
Wird es perspektivisch einen unabhängigen kurdischen Staat geben?
Çopur: Einen solchen Staat sehe ich nicht, denn dieser ist weder international durchsetzbar noch wird er von allen Kurden befürwortet. Stattdessen sollte es flexible Grenzen an den Schnittstellen der kurdischen Gebiete geben, ähnlich dem Schengen-Raum. Mithilfe eines „Schengens für Kurdistan“ könnten gleichzeitig autonome Strukturen in den Kurdengebieten aufgebaut werden, die weiter zur Stabilisierung der Region beitragen könnten. Bis dahin gilt es, die gegenwärtig guten Karten der säkularen Kurden im Sinne der Befriedung im Nahen Osten zu nutzen und sie als gleichberechtigte Partner in eine mögliche Neuordnung Syriens einzubeziehen