Essen. Ein Jahr Misshandlungsskandal von Burbach: Die Behörden sind sensibel geworden in der Flüchtlingsfrage. Das zeigt auch der Blick über Landesgrenzen.

Wo viele Menschen unterschiedlichster Herkunft auf engem Raum zusammenleben, kann es schnell zu Spannungen und Gewalt kommen. In Kassel-Calden kam es am Wochenende zu einer Massenschlägerei in einer Zeltstadt mit 1500 Bewohnern, auch in Bad Laasphe musste die Polizei zu einem größeren Einsatz ausrücken. Hessische Medien berichteten jüngst über sexuelle Übergriffe in einer der größten deutschen Flüchtlingsunterkünfte in Gießen mit über 5000 Bewohnern. Bahnt sich so etwas womöglich auch in NRW an?

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Um es kurz zu machen: Nein. Seit dem Skandal von Burbach vor einem Jahr sind die Behörden sensibilisiert, es werden – anders als offenbar in Hessen – strengere Maßstäbe an die Einrichtung selbst und das Personal angelegt. Zum Beispiel sind geschlechtergetrennte Sanitäranlagen verpflichtend; wo es geht, wird bei der Belegung auf Nationalität oder Familienzugehörigkeit geachtet. Und: NRW-Einrichtungen sind deutlich kleiner.

Zustrom vom Balkan lässt wohl nach

Zur Situation in Gießen hatte ein „Bündnis zur Situation von geflüchteten Frauen und Mädchen“ geschrieben: „Es muss deutlich gesagt werden, dass es sich hierbei [Vergewaltigungen und andere Sexualstraftaten, Red.] nicht um Einzelfälle handelt. Frauen berichten, dass sie, aber auch Kinder vergewaltigt wurden oder sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind. So schlafen viele in ihrer Straßenkleidung. Frauen berichten regelmäßig, dass sie nachts nicht zur Toilette gehen, weil es auf den Wegen dorthin und in den sanitären Einrichtungen zu Überfällen gekommen ist. Selbst am Tag ist der Gang durch das Camp für viele eine angstbesetzte Situation.“

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Hubert Multhaup, der für das Deutsche Rote Kreuz nach den Misshandlungsvorfällen durch Sicherheitspersonal in Burbach die Leitung der Einrichtung übernahm, sieht zwei Faktoren, die den Frieden in der ehemaligen Siegerlandkaserne sichern: Derzeit stamme der allergrößte Teil der Bewohner aus dem arabischen Raum, „die Kulturen knallen nicht aufeinander“, sagt er. Zumal der Zustrom aus den Balkanstaaten in den vergangenen Tagen spürbar nachgelassen habe: „Es scheint sich wohl herumgesprochen zu haben, dass sie nicht bleiben können.“ Nur, sagen viele Einrichtungsleiter, sei eine Trennung nach Herkunft oder Religion angesichts der hohen Flüchtlingszahlen kaum zu leisten.

Unterkunft für 1500 Menschen kurz hinter der Landesgrenze

Der zweite Faktor: Die Bewohner werden beschäftigt. Freizeitaktivitäten, Kinderbetreuung, Sportangebote – der „Lagerkoller“ bleibt aus. Mit einer Auslastung von 500 bis 600 Bewohnern hätten er und sein Team eine gut händelbare Größe erreicht. Als es aufgrund der Menge kurzzeitig über 800 Flüchtlinge waren, „spürte man sofort, dass es brodelte“, sagt Multhaup. Entsprechend habe man flexibel reagiert, etwa Essenszeiten verlängert oder weitere Türen geöffnet, damit sich keine Warteschlangen bilden.

Mit Sorge blickt Multhaup über die nur wenige Meter entfernte Landesgrenze nach Rheinland-Pfalz, wo auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Stegskopf quasi in Sichtweite eine Unterkunft für 1500 Flüchtlinge entstehen soll.

Flüchtlinge klagen über mangelnde Privatsphäre

Nicht alle Standards sind allerdings – allein aufgrund der vielen Menschen und der räumlichen Gegebenheiten – in jeder Notunterkunft umsetzbar. „Da muss man natürlich Abstriche machen“, sagt Ralf Ciekanowski von der für die Unterbringung von Flüchtlingen zuständigen Bezirksregierung Arnsberg. Zentrale Unterbringungseinrichtungen (ZUE) haben Gemeinschaftsräume, Fernsehzimmer, Orte für religiöse Versammlungen, Kinderbetreuung. Vieles davon fehlt in den Turnhallen und Zeltstädten, viele Menschen leben in einem großen Raum zusammen, Privatsphäre gibt es kaum.

Flüchtlinge beklagen diese Situation: „Die anderen Bewohner hören Musik, die Babys weinen, es gibt keine Privatsphäre. Ich kann meinen Hijab nicht abnehmen oder mich umziehen. Hier sind auch andere Syrer, wir würden gerne mit ihnen in einem Raum untergebracht werden“, sagt beispielsweise Lana G. aus dem syrischen Daraa, die in einer westfälischen Turnhalle gelandet ist.

Notunterkünfte aufrüsten

Das ist zwar nicht schön, allerdings müsse man der Lage erst einmal Herr werden, gibt eine DRK-Sozialbetreuerin, zu bedenken. Jedem eine Unterbringung nach Wunsch zu gewährleisten, sei nicht unbedingt der dringendste Anspruch – oft genug gehe es darum, dass die Menschen nicht auf der Straße schlafen müssen.

Die Bezirksregierung arbeitet daran, diese Standards wo es geht auch in den Not-Camps aufzubauen. „Unser Ziel ist es, weg von den Notunterkünften zu kommen“, sagt Ralf Ciekanowski. Es sollen ZUE geschaffen werden, die mit dieser Größenordnung zurechtkommen und eine halbwegs angenehme Unterbringung aller Flüchtlinge gewährleisten. Aber geeignete Immobilien suchen und finden, Kommunalpolitik und Bürger einbinden – Ciekanowski: „Es dauert, bis so ein Prozess abgeschlossen ist.“

Wie werden Flüchtlinge in NRW auf die Einrichtungen verteilt? 

Flüchtlinge erreichen eine Zentrale Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) entweder auf eigene Faust – oder werden dem Land zugewiesen. Im ersten Fall kommt ein Flüchtling beispielsweise mit einem Schlepper über die österreichisch-deutsche Grenze und fährt mit dem Taxi oder dem Zug nach Unna. Das ist gar nicht so selten, denn die Flüchtlinge kommunizieren intensiv untereinander darüber, wo sie gut behandelt werden und wo nicht.

Im zweiten Fall, etwa bei den großen Menschenmengen, die aus Ungarn weitergeschickt wurden, weist der Bund nach der Registrierung in Bayern den einzelnen Ländern Flüchtlinge zu – in NRW aktuell 21,2 Prozent. Hat NRW die Quote erfüllt, schickt es diese „Kontingentflüchtlinge“ in andere Bundesländer. Diese parallel einlaufenden Flüchtlingsströme koordiniert zentral die Bezirksregierung Arnsberg.

Bezirksregierung koordiniert die Verteilung

In NRW gibt es laut Ralf Ciekanowski von der zuständigen Bezirksregierung Arnsberg fünf Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE): Dortmund, Bielefeld, Bad Berleburg, Burbach und Unna-Massen. Dort erfolgt die Erstregistrierung: Personalien, Medizincheck, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nimmt die Asylanträge entgegen. In der Regel bleiben die Flüchtlinge dann rund drei Wochen in einer Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) und werden dann für die Dauer ihres Asylverfahrens auf die Kommunen verteilt. Die Kapazitäten dieses Verfahrens reichen im Normalfall aus für 10.000 Menschen.

Wenn die Einrichtungen - hier ein Foto aus Burbach - zu voll werden, kommt es schnell zu Spannungen zwischen den Bewohnern.
Wenn die Einrichtungen - hier ein Foto aus Burbach - zu voll werden, kommt es schnell zu Spannungen zwischen den Bewohnern. © Hendrik Schulz

In den letzten Wochen sind allerdings 30.000 Menschen gekommen – „diese große Welle können die EAE nicht registrieren“, sagt Ciekanowski. Um die Flüchtlingswelle zu bewältigen, wurden die inzwischen 163 Notunterkünfte in Betrieb genommen – in leerstehenden Gebäuden, Turnhallen oder eigens errichteten Zeltstädten.

Keine Menschen aus verfeindeten Ländern in einem Zimmer

Diese dienen zunächst einmal dazu, den Menschen ein Dach über dem Kopf zu geben, sie mit Nahrung zu versorgen. „Beliefert" werden die Notunterkünfte von den fünf EAE aus – wer wo wieviele freie Plätze hat, melden die Einrichtungen regelmäßig an die Bezirksregierung, die dann die Verteilung der Flüchtlinge koordiniert.

„Wir bekommen vor dem Transfer eine Liste mit Namen und persönlichen Daten, meine Betreuer überlegen anhand dieser Kriterien, wie die Personen sinnvoll in die freien Zimmer verteilt werden können“, sagt Marius Meyer, Einrichtungsleiter bei den Maltesern. „Familien zusammen, Männer und Frauen getrennt, Nationen, die noch vor Kurzem Krieg geführt haben, nicht zusammen.“ Obwohl letzteres auch schon vorgekommen ist. Meyer: "Die haben sich super verstanden."