Essen/Düsseldorf. Beim Prinzip “Lesen durch Schreiben“ gehen die Meinungen auseinander. Hamburg hat es verboten, in NRW wurde eine Petition zur Abschaffung eingereicht.

„ch hap dij lip“ - Nein, das ist nicht das Ergebnis zufällig gedrückter Buchstaben auf der Tastatur, sondern die Liebeserklärung eines Erstklässlers an seine Mama. Der Sohn von Isa Becker aus Iserlohn hat es eben nicht anders gelernt: "Lesen durch Schreiben" nennt sich diese Lehr- und Lernmethode, Fehler sind erlaubt und werden vorerst nicht korrigiert - dürfen theoretisch auch nicht von Eltern korrigiert werden. Kritiker sehen in dieser Rechtschreib-Praxis allerdings eine ausgeprägte "Sprach-Demolierung".

Wer hat's erfunden? Genau - ein Schweizer. Der Reformpädagoge Jürgen Reichen entwickelte das Konzept "Lesen durch Schreiben" in den 1970er Jahren, bis heute wird das Prinzip gern in den Grundschullehrplan integriert. Dabei sollen Kinder die Worte so zu Papier bringen, wie sie sie akustisch wahrnehmen. Eine Anlauttabelle hilft ihnen dabei, sie zeigt die Laute und die dazu passenden Bilder - "H" für "Hase", "Au" für "Auto" und "S" für "Sonne". Schüler können die Symbole abmalen und zu einer Klangkette verbinden, dadurch erschließen sie sich selbstständig die Beziehung zwischen Laut und Bild. Die Kinder könnten sich so eher schriftlich mitteilen, das Lesen käme begleitend dazu.

Lehrer wehren sich gegen pädagogischen Schonkurs

Befürworter argumentieren, dass die Kinder mit dieser Lernmethode motivierter im Unterricht seien und nicht gleich mit dem Rotstift erschreckt werden würden. Doch nicht jeder ist Fan von diesem pädagogischen Schonkurs. Sogar Lehrer von weiterführenden Schulen sprechen sich gegen die Reichen-Methode aus: "Es ist höchste Zeit, diese Sprach-Demolierung zu stoppen. Rechtschreibung ist ein Kulturgut", sagt lehrer nrw-Vorsitzende Brigitte Balbach.

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Bereits im September 2013 legte die FDP einen Antrag dem Landtag NRW vor, das umstrittene Konzept auszusetzen - wegen "katastrophaler Defizite in der Rechtschreibung". Die Landesregierung sah darin jedoch keinen Handlungsbedarf; es lägen keine wissenschaftliche Befunde vor, dass die Methode "Lesen durch Schreiben" grundsätzlich nicht erfolgreich sei. Ganz im Gegenteil: Die Schüler erlernten einen vielfältigen Umgang mit Wörtern und würden Rechtschreibstrategien erwerben, mit deren Hilfe sie Gesprochenes und Gedachtes verschriftlichen würden.

Keine Methode hat Monopol-Status

Außerdem werde nicht nur nach dem "Schreiben nach Gehör"-Prinzip unterrichtet. "Keine Schule verabsolutiert nur eine Methode, Lehrer decken ein ganzes Spektrum von Lehrmodellen ab", bestätigt eine Sprecherin des NRW-Schulministeriums. Vom Land werden kompetenzorientierte Lehrpläne erstellt, die beispielsweise festlegen, was ein Kind nach der zweiten und vierten Klasse können muss. Wie diese Lehrpläne letztendlich umgesetzt werden, liegt in der Verantwortung des Lehrerkollegiums .

In Hamburg wurde "Lesen durch Schreiben" bereits im Dezember 2013 aus der Liste der potentiellen Unterrichtsmodelle gestrichen, im Juli hat die CDU in Rheinland-Pfalz eine große Anfrage im Landtag eingereicht.

Und auch in NRW regen sich wieder die Gegner der überwachten Rechtschreibanarchie: Eine offene Petition fordert im Netz die Abschaffung der Lehrmethode, mehr als 4600 Unterstützer haben bis zur Einreichung Anfang September unterzeichnet. Damit aus ein „ch hap dij lip“ ein richtiges "Ich hab dich lieb" wird.