Berlin. In nur fünf Minuten erklärte Deutschland am Sonntag die Kurskorrektur in der Flüchtlingspolitik. Das Land wähnt sich jetzt an der Belastungsgrenze.
Es ist sehr selten, dass ein Minister am späten Sonntagnachmittag spontan zu einer Pressekonferenz einlädt. Doch offenbar ging es nicht mehr anders. Deutschland kann die Flüchtlingsstrom nicht mehr kontrollieren. Die Regierung muss handeln. Der Zeitpunkt zeigt, wie groß die Not ist.
Betroffenheit steht in seinem Gesicht. Thomas de Maizière, ein eher nüchterner Typ, schaut noch ernster als sonst. Um kurz nach halb sechs Uhr verkündet er, dass Deutschland die Grenze zu Österreich schließt. Das Schengen-Abkommen wird außer Kraft gesetzt. Dieses sieht einen freien Grenzübergang innerhalb der Europäischen Union vor.
De Maizière erhebt Forderungen an die EU-Partner
De Maizières Begründung: „Das ist auch aus Sicherheitsgründen erforderlich.“ Nach dem geltenden europäischen Recht sei Deutschland für den allergrößten Teil der Schutzsuchenden gar nicht zuständig. „Das Dublin-Verfahren und die Regelung über die Registrierung gelten unverändert fort“, sagte de Maizière. „Und ich fordere, dass sich alle europäischen Mitgliedstaaten in Zukunft wieder daran halten.“ Heißt: Der zuständige Mitgliedstaat soll die Asylsuchenden nicht nur registrieren, sondern auch das Asylverfahren durchführen, wie de Maizière sagt. Dann richtet der Innenminister noch einen Satz an die Flüchtlinge: „Auch die Asylsuchenden müssen akzeptieren, dass sie sich einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union, der ihnen Schutz gewährt, nicht einfach aussuchen können.“
Nicht mal fünf Minuten dauerte der Auftritt de Maizières. Und doch ist danach vieles anders. Vor einer Woche war seine Regierungschefin Angela Merkel (CDU) noch die Flüchtlingskanzlerin. Menschen auf dem Weg nach Deutschland hielten Bilder von ihr hoch, feierten „Mama Merkel“.
Die Schuldzuweisungen an Merkel hatten sich gehäuft
Jetzt die Kurskorrektur. Die Schuldzuweisungen häufen sich, auf EU-Ebene, aber auch zwischen den Bundesländen. In München kommt das bayerische Kabinett am Sonntag zu einer Sondersitzung zusammen. Ist es so weit und eine kritische Größe erreicht? Kippt jetzt die Stimmung?
„Ich sage Ihnen, das ändert sich gerade stündlich“, ist Jens Spahn überzeugt. „Die Debatte wird in wenigen Tagen ganz anders aussehen“, erklärte das CDU-Präsidiumsmitglied der „Süddeutschen Zeitung“. Dabei bezweifelt die übergroße Mehrheit nicht, dass Deutschland den Zuzug von mehr als 800.000 Flüchtlingen in diesem Jahr bewältigen werde. Bloß: Wie viele kommen 2016? Bekommt ihr die Lage in den Griff? Vor allem: Was hält Deutschland noch aus?
Ministerpräsidenten fordern ein Treffen mit Merkel
In Sorge sind auch die Ministerpräsidenten. Zwei von ihnen, Malu Dreyer aus Rheinland-Pfalz und der Kieler Torsten Albig verlangten am Wochenende ein Sondertreffen mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Die Botschaft ist unschwer erkennbar: Merkel ist gefordert. Die Länder tragen ihr nach, dass sie vor einer Woche ohne Rücksprache die Aufnahme von Tausenden Flüchtlingen beschlossen hatte. Bayern und die CSU sind seither auf Krawall gebürstet, und auch CDU-Parteifreunde setzen sich ab. Als Stanislaw Tillich im Deutschlandfunk zu Merkel gefragt wurde, wich der sächsische Ministerpräsident aus: Er würde nicht sagen, „es war ein Fehler oder es war kein Fehler“. Parteisolidarität klingt anders.
Weitgehend Konsens herrscht darüber, dass die Grenzen der Belastbarkeit erreicht sind und die EU-Partner gefragt sind. Vor dem EU-Sondertreffen zur Flüchtlingskrise wies der tschechische Regierungschef Bohuslav Sobotka die Forderung nach einem verbindlichen Quotensystem zurück. „Wir dürfen nicht nachgeben“, schwor er sich. Was dann?
Ein Totalversagen der Europäischen Union
Der Sachse Tillich stellt das Schengen-Abkommen zur freien Bewegung zwischen den Mitgliedstaaten in Frage: „Ich habe den Eindruck, dass Schengen nicht mehr funktioniert und dass das natürlich dazu führt, dass dann darüber hinaus unregistrierte Bürger zu uns kommen“. Wegen des Totalversagens der EU funktionierten die Außengrenzen nicht mehr, pflichtet Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) bei. Er fordert als erstes Kabinettsmitglied, was insgeheim beschlossen ist, Zeitungen aus Österreich melden, Innenminister Thomas de Maizière (CDU) aber erst um 17.30 Uhr bestätigt, nämlich die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zur Alpenrepublik.
München hatte am Wochenende einen neuen Flüchtlingsansturm erlebt und mit knapper Not bewältigt. Am Sonnabend kamen knapp 13.000 Flüchtlinge in München an, bis Sonntagmittag schätzungsweise noch einmal 3000 Menschen. Seit dem 31. August sind in München 63.000 Flüchtlinge angekommen. „Das entspricht einer Stadt wie Rosenheim, die hier durchgelaufen ist“, sagte der Regierungspräsident von Oberbayern, Christoph Hillenbrand. Es brauche dringend zwei weitere Drehkreuze zur Verteilung der Flüchtlinge. Bayerns Sozialministerin Emilia Müller bekräftigte, die übrigen Länder müssten entsprechend dem Verteilungsschlüssel Flüchtlinge aufnehmen, um Oberbayern zu entlasten. „Darauf müssen wir dringen“, bekräftigte sie.
Die meisten Züge gehen von München nach NRW
Zur Entlastung der Münchner Notunterkünfte und der Weiterleitung von Neuankömmlingen fahren Sonderzüge, am Sonntag, insgesamt drei. Zwei davon gehen nach Nordrhein-Westfalen, einer nach Norddeutschland. Schon am Vormittag hatte ein Sonderzug mit 500 Flüchtlingen den Münchner Hauptbahnhof verlassen - Richtung Dortmund. Berlin hat ebenfalls weitere Flüchtlinge aus München und Salzburg aufgenommen. NRW sieht sich bei der Aufnahme von Flüchtlingen allmählich an der Belastungsgrenze. Innerhalb einer Woche waren ungefähr 10.000 Flüchtlinge in Sonderzügen aus Bayern gekommen. „Wir stehen schon die ganze Woche an der Seite der Kollegen in Bayern und schaffen täglich neue Kapazitäten“, sagte ein Sprecher des Innenministeriums. „Wir wissen jedoch nicht, wie lange wir das noch durchhalten.“