Brüssel. . EU-Kommissionschef redet Regierungen ins Gewissen: In der Flüchtlingskrise mangele es an Entschlossenheit, die Aufgaben gemeinsam zu bewältigen.

„Dies ist die Stunde der Ehrlichkeit“, verspricht Jean-Claude Juncker zu Beginn seiner Rede. Und die sieht so aus: „Es fehlt an Europa in dieser Union, und es fehlt an Union in dieser Union.“ Es ist der Satz, der hängen bleiben wird und alle aufrütteln soll, die angesichts des Bergs an Problemen auf Distanz zum Gemeinschaftswerk gehen. Junckers Kernbotschaft an diesem Dienstag ist eine Variante der Parole „Yes, we can!“, der Barack Obama seine Präsidentschaft verdankte. Wir Europäer könnten sehr wohl – wenn wir wollten und bereit wären, mehr einzusetzen.

So erfahren wie der langjährige Luxemburger Premier ist „in Europa“ keiner, gegen den 60-jährigen Veteranen ist Angela Merkel fast noch EU-Lehrling. Doch in größeren Schwierigkeiten als derzeit hat er sein Herzensprojekt noch nicht gesehen: Zur nicht erledigten Schulden- und Wachstumskrise, dem Zerwürfnis mit Russland und der Bedrohung durch Dschihadismus kommt jetzt das Mega-Problem Völkerwanderung.

Schon fünfhunderttausend Flüchtlinge, sagt Juncker, hätten sich dieses Jahr „nach Europa durchgeschlagen“, auf der Flucht vor dem Krieg in Syrien, dem Terror in Libyen, der blutigen Unterdrückung in Eritrea. Hunderttausende werden noch folgen. Beängstigende Zahlen? Davon will der Kommissionspräsident nichts wissen. „Es ist Zeit für mutiges, entschlossenes und gemeinsames Handeln der Europäischen Union, unserer Institutionen und aller Mitgliedstaaten.“

Es ist ein Appell, wie ihn ähnlich zuletzt auch die Bundeskanzlerin mit Erfolg an ihre Landsleute gerichtet hat, nur dramatischer und streckenweise getragen von geradezu biblischem Zorn gegen Kleingeister und Egoisten, die ihre nationalen Brücken hochziehen wollen. Dabei machen Flüchtlinge in der europäischen Wohlstandszone gerade mal 0,11 Prozent der Bevölkerung aus, im Libanon hingegen ein Viertel. Da wird Juncker emotional: „Stellen Sie sich vor, das wären Sie – mit einem Kind im Arm, und die Welt drumherum bräche zusammen – Sie würden alles tun, jeden Preis bezahlen und versuchen, jede Mauer, jedes Meer und jede Grenze zu überwinden!“

Abschottung ist aber nicht nur unmenschlich, sie ist auch geschichtsvergessen. Juncker erinnert an Hugenotten, Juden, Sinti und Roma, an fliehende Ungarn 1956 und fliehende Tschechen 1968, an die Entwurzelten nach dem Zerfall Jugoslawiens: „Europa ist ein Kontinent, auf dem im Laufe der Geschichte fast jeder einmal Flüchtling war.“ Wenn dieses Europa heute für viele Menschen im Nahen Osten und Afrika „ein Leuchtturm der Hoffnung und ein Hafen der Stabilität“ sei, habe man Grund, stolz zu sein und nicht furchtsam.

Für Juncker ist der Auftritt persönlich ein schwerer Gang. Ein paar Mal verliert er fast den Faden. Am Wochenende ist Junckers Mutter gestorben, der Vater liegt im Krankenhaus.

Was zu tun ist, um sich dem Flüchtlingsproblem auf breiter Front zu stellen, hat Junckers Kommission schon im Mai in einer „Migrationsagenda“ aufgeschrieben: gerechtere Verteilung der Lasten, Vereinheitlichung der Verfahren, Schutz der Außengrenzen, energischer Kampf gegen kriminelle Schleuser.

Doch viele Regierungen ziehen nicht mit, versuchen stattdessen, den Andrang mit Zäunen und Grenzpolizisten zu stoppen. Im Sommer hat die Kommission wegen Verstößen gegen die europäischen Asylregeln 32 Verfahren gegen Mitgliedstaaten eingeleitet, weitere sollen folgen. Vor allem um die Verteilung der Asylbewerber unter den EU-Staaten gibt es Streit, die Länder der EU-Ostflanke sperren sich. Doch die Kommission lässt nicht locker: Zur Rede ihres Chefs legte sie neue Vorschläge vor: Statt der im Mai angepeilten 40 000 sollen nun 160 000 Flüchtlinge zugeteilt werden. Auch den Zugang für legale Einwanderung will sie öffnen.