Essen. . Das Ausmaß des Flüchtlingsdramas vor dem Eurotunnel bereitet Spediteuren große Sorgen. Viele Fahrer weigern sich, die Tour zu machen. Scharfe Kritik am britischen Zoll.
Not macht erfinderisch. Und die Not der Flüchtlinge von Calais ist groß. Weil die französische Polizei die zwischen Lastwagenladungen versteckten Menschen mit Atemluftmessgeräten aufspürt, klammern sich viele Flüchtlinge buchstäblich an einen Strohhalm. Durch Löcher in den Lkw-Planen atmen sie so nach außen aus – damit die Geräte nicht anschlagen.
Bilder wie diese gehören für Lastwagenfahrer auf ihrer Tour nach Großbritannien längst zum traurigen Alltag. Denn während die Brummis vor dem Eurotunnel für Abertausende Menschen, die nach monatelanger Odyssee in der französischen Hafenstadt stranden, zu Vehikeln der Hoffnung geworden sind, erleben Trucker und Spediteure die einst so beliebte Strecke über den Ärmelkanal als einzigen Albtraum.
„Szenen wie im Horrorfilm“
Der Verband für Verkehrswirtschaft und Logistik NRW (VVWL) spricht sogar von „Szenen wie in einem schlechten Horrorfilm“. In Calais sorge allein die schiere Zahl der Flüchtlinge dafür, dass Menschen in ihrer Verzweiflung jegliche Hemmungen fallen ließen. „Die Flüchtlinge verstecken sich nicht mehr heimlich, sondern entern die Lastwagen regelrecht.
Dutzende Menschen umzingeln am helllichten Tag die Fahrzeuge, brechen Ladetüren und Staukästen auf, schneiden sogar Löcher in die stabilen Dächer der Sattelauflieger“, berichtet Verbandssprecher Marcus Hover. Reiche der Platz nicht, werde Ladung einfach auf die Straße geworfen. Die Fahrer hätten längst aufgegeben. Hover: „Wer sich wehrt, wird massiv bedroht.“
Die Fahrer haben Angst
Das hat Folgen tief in die Branche hinein. „Unsere Fahrer haben Angst, viele weigern sich, nach Großbritannien zu fahren“, sagt Horst Kottmeyer, Inhaber einer Großspedition mit 250 Mitarbeitern und 120 Brummis. Früher schickte Kottmeyer seine Fahrer bis zu 5000 Mal im Jahr über den Kanal. Mittlerweile hat das Unternehmen aus Bad Oeynhausen mit Filialen in Recklinghausen und Hamburg seine Fahrten auf die Britische Insel auf ein Minimum reduziert. Beliefert werden nur noch Stammkunden. Selbst bis in deren Werkshöfe hinein sind schon Flüchtlinge als blinde Passagiere mitgereist. Kottmeyer: „Plötzlich war da ein Riesenloch in der Plane unseres Wagens und vier Flüchtlinge kletterten heraus.“
Das Problem ist nicht einmal neu. Schon seit Jahren gilt Calais unter Flüchtlingen als goldenes Tor ins Vereinigte Königreich. Doch so dramatisch war die Lage noch nie. Täglich, erzählt Horst Kottmeyer, hole die Polizei bis zu 1500 Menschen aus den Lastern am Eurotunnel. „Früher gab es vereinzelte Versuche, im Dunkeln heimlich auf die Laster zu klettern – auf 1000 Touren kam ein Vorfall.“ Heute jedoch sei praktisch jede Fahrt betroffen.
Längst sind die Spediteure vorsichtig geworden. Trucker dürfen ab Antwerpen keinen Halt mehr machen. Belgische Raststätten gelten als „Bushaltestellen“ für Flüchtlinge. Auch in Calais sollen die Fahrer nicht mehr aussteigen, selbst wenn sie sehen, dass Flüchtlinge in den Laderaum eindringen. „Die Situation der Flüchtlinge ist ein humanitäres Drama. Ich muss aber auch meine Leute schützen. Die Lage vor Ort könnte eskalieren“, begründet Klaus Heinen, Chef der KMS Transporte GmbH, diesen Schritt.
Für KMS hängt von der weiteren Entwicklung in Calais viel ab. Der Spediteur aus Bergheim bei Köln hat sich auf den Güterverkehr nach Großbritannien und Irland spezialisiert. Doch in den letzten Monaten ist die Zahl der Touren um ein Drittel eingebrochen. Und KMS hat Mühe, Fahrer zu finden. Heinen: „Die winken beim Ziel England gleich ab.“
Was auch an einer in der Branche verhassten Praxis des britischen Zolls liegen dürfte: Trucker und Spediteure fühlen sich von der Behörde wie Menschenschmuggler behandelt, wenn auf ihren Fahrzeugen Flüchtlinge entdeckt werden. „Wer blinde Passagiere an Bord hat, macht sich strafbar“, sagt Horst Kottmeyer. Der Fahrer wird festgehalten und muss 500 Pfund zahlen – pro Flüchtling. Für den Spediteur werden 2000 Pfund fällig. Der Bundesverband Güterkraftverkehr hat dagegen in Berlin scharf protestiert. Die Methode der Briten sei ein „menschenverachtendes Grenzschutzregime“.