Ankara. . Selahattin Demirtas, charismatischer Führer der Kurden-Partei HDP in der Türkei, wird bereits mit dem US-Präsidenten verglichen. Er hat seine Partei in ein Sammelbecken der liberalen Opposition verwandelt.

Die türkische Luftwaffe bombardiert Stellungen der PKK im Nordirak, die Guerilla antwortet mit Morden und Attentaten. In der Türkei bricht der Kurdenkrieg wieder auf. Er könnte das Land zerreißen. Mittendrin in diesem Konflikt: der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas. Für ihn geht es jetzt um alles: Seine Partei, seine Glaubwürdigkeit, seine Freiheit.

„Als ich jung war, dachte ich, ich würde die meiste Zeit meines Lebens im Gefängnis verbringen“, sagt Demirtas. Keine unrealistische Erwartung für einen türkischen Kurden, der sich als Menschenrechtsanwalt betätigt. Das Gefängnis: Es kann ja noch kommen. Vorerst sitzt Demirtas zwar nicht hinter Gittern sondern in der türkischen Nationalversammlung – als einer von 80 Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP), deren Vorsitz er gemeinsam mit der Kurdin Figen Yüksekdag führt.

Aber jetzt ermittelt die türkische Staatsanwaltschaft gegen das Duo. Demirtas und Yüksekdag werden beschuldigt, Propaganda für die kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) gemacht zu haben, die offiziell als Terrororganisation eingestuft werden. Bei einem Schuldspruch müssen sie mit bis zu 24 Jahren Haft rechnen, der HDP könnte ein Verbot drohen.

Viele Beobachter vermuten politische Motive hinter den Ermittlungen. Schließlich hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan jüngst führenden HDP-Politikern mit Strafverfolgung gedroht. Vor allem der HDP war es geschuldet, dass die von Erdogan gegründete islamisch-konservative AKP bei der Parlamentswahl im Juni erstmals seit 2002 ihre absolute Mehrheit verlor. Schlimmer noch: Die bisher unter den Teppich gekehrten Korruptionsvorwürfe könnten wieder hochkommen.

Erdogan will Demirtas als Terroristen diskreditieren

Scheitern die derzeit von Premierminister Ahmet Davutoglu geführten Koalitionsverhandlungen, kommt es im Herbst zu Neuwahlen. Deshalb scheint Erdogan jetzt alles daranzusetzen, Demirtas als „Terroristen“ und seine HDP als Tarnorganisation der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu diskreditieren.

Der 42-jährige Demirtas ist das Gesicht der HDP. Jung, gut aussehend, ein brillanter Redner, ein schlagfertiger, witziger Diskutant – manche sprechen von ihm als dem „kurdischen Obama“. Dazu passt, dass er im Wahlkampf häufig mit seiner Frau Basak, einer Lehrerein, und den beiden Töchtern des Ehepaars auftrat.

Geboren als zweitjüngstes von sieben Kindern seiner Eltern in der kleinen Ortschaft Palu der türkischen Ostprovinz Elâzığ, studierte Demirtas in Ankara Jura, arbeitete als Anwalt, engagierte sich bei der Menschenrechtsorganisation IHD und bei Amnesty International, bevor er 2007 in die Politik ging und in der Provinz Diyarbakir einen Parlamentssitz eroberte.

Nur Demirtas ist Erdogan rhetorisch gewachsen

Schon bei der Präsidentenwahl vor einem Jahr hatte Demirtas als Erdogans Gegenkandidat mit knapp zehn Prozent Stimmenanteil einen unerwarteten Achtungserfolg erzielt und bewiesen: Als einziger türkischer Politiker ist er dem Demagogen Erdogan rhetorisch gewachsen. Umso gnadenloser bekämpft Erdogan jetzt jenen Mann, der die AKP um die absolute Mehrheit gebracht hat.

Aber Demirtas ist kein leichter Gegner. Er entspricht so ganz und gar nicht dem Stereotyp des kurdischen Aktivisten. Er spaltet nicht, wie Erdogan, sondern er baut Brücken. Demirtas trifft den richtigen Ton – wenn er etwa sich selbst als „ein Kind Atatürks“ bezeichnet, des legendären Staatsgründers. Das ist ein Bekenntnis zur Türkischen Republik und eine klare Absage an den Separatismus, mit dem frühere Kurdenparteien in Verbindung gebracht wurden.

So machte Demirtas aus der HDP eine Partei, die sich nicht mehr ethnisch definiert, sondern sich öffnet für Angehörige anderer Minderheiten, für Linke und Liberale, für Ökologen und die Gezi-Protestbewegung, für Schwule und Lesben. Frauen, mit und ohne Kopftuch, spielen in der HDP ohnehin eine größere Rolle als in jeder anderen politischen Partei des Landes.

Demirtas steht zwischen den Fronten

Nicht nur für die Kurden, auch für viele Türken ist Demirtas ein Hoffnungsträger. „Obama“: Das zeigt, wie hoch die Erwartungen gesteckt sind – und wie groß damit die Fallhöhe ist. Wenn jetzt der Kurdenkonflikt wieder aufflammt, ist das für Demirtas die denkbar größte Herausforderung.

Er steht zwischen den Fronten: Auf der einen Seite Erdogan und die nationalistischen Hardliner, auf der anderen Seite der militante, kampfbereite Flügel der PKK, dem die Türkifizierung der HDP seit jeher missfiel, weil die Partei damit dem Einfluss der PKK entzogen wird.

Auch persönlich geht Demirtas jetzt durch einen schwierigen Prozess der Läuterung und der Bewährung. Dass sein älterer Bruder Nurettin als PKK-Mitglied im Gefängnis saß und jetzt mit der Guerilla in den Bergen des Nordirak lebt, bringt ihm bei den Kurden im Südosten zwar Sympathie ein, denn dort ist die PKK als Massenbewegung tief verwurzelt. In den Augen vieler Türken ist es dagegen ein schwerer Makel.

Erdogan schürt den Konflikt

Erdogan setzt darauf, dass Demirtas und die HDP zwischen diesen Fronten zerrieben werden. Deshalb schürt er den Konflikt, lässt die Lager der PKK im Nordirak nun wieder bombardieren und erklärt den von ihm selbst angestoßenen Friedensprozess für beendet.

Es ist ein Spiel mit dem Feuer. Die PKK antwortet bereits mit Terroranschlägen. Schlimmstenfalls droht der Türkei ein Rückfall in die bürgerkriegsähnlichen Zustände der 90er Jahre. Erdogan nimmt das offenbar in Kauf, um seine Macht zu festigen.

Demirtas lässt sich nicht entmutigen, weder durch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, noch durch die Tiraden Erdogans oder durch den Terror der PKK-Hardliner: „Es ist nie zu spät, zum Frieden aufzurufen“, sagte er am Montag. Der Politiker appellierte an die Armee und an die PKK, „den Finger vom Abzug zu nehmen“. Demirtas: „Wenn wir heute Frieden schließen, müssen morgen unsere Kinder nicht sterben“.