Essen. Selbsternannten Asylkritikern ist kein Argument zu wirr, um gegen Flüchtlinge zu hetzen. Doch viele ihrer Thesen halten einer Prüfung nicht stand.

Die Debatte um die zunehmende Zahl an Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, wird immer emotionaler geführt. Viele Argumente von selbsternannten "Asylkritikern" wiederholen sich. Wer genauer hinschaut, stellt aber fest, dass die Wiederholung sie nicht richtiger macht. Wir haben zehn oft verwendete Thesen einem Faktencheck unterzogen.

These 1: Deutschland nimmt viel mehr Flüchtlinge auf als andere Länder.

Im vergangenen Jahr haben laut der EU-Statistik-Behörde Eurostat 626.000 Menschen Asyl in einem EU-Land beantragt, gut 200.000 davon in Deutschland. In absoluten Zahlen könnte man die These "Deutschland hat die meisten Asylbewerber" also noch vertreten, doch umgerechnet auf die Einwohnerzahl passt das Bild nicht mehr: Schweden etwa hatte 2014 durchschnittlich 8,4 Asylanträge pro 1000 Einwohner zu bearbeiten. In Deutschland waren es 2,5. Auch Ungarn, Österreich, Malta und Dänemark liegen in dieser Statistik noch vor der Bundesrepublik.

Zudem sagt die Zahl der Asylanträge nur wenig darüber aus, wie viele Flüchtlinge ein Land tatsächlich aufnimmt. Wiederum umgerechnet auf die Einwohnerzahl hat Schweden die meisten Asylanträge positiv beschieden, nämlich gut einen pro 1000 Einwohner. In Deutschland wurden pro 1000 Einwohner nur 0,4 Asylanträge genehmigt.

Blickt man über den Tellerrand Europas hinaus, sieht man ganz andere Dimensionen: Der kleine Libanon mit seinen rund 4,5 Millionen Einwohnern hat knapp 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Ein Flüchtling, drei Einwohner, das ist die Quote. In NRW, schätzen Experten, werden am Jahresende 125-mal so viele Einwohner wie Flüchtlinge leben.

These 2: Wer vom Balkan kommt, ist ein Wirtschaftsflüchtling.

"Das sind doch gar keine echten Flüchtlinge", heißt es oft über Flüchtlinge vom Balkan, also aus Albanien, Serbien oder dem Kosovo. Diese Menschen hätten kein Anrecht auf Asyl, weil sie nicht verfolgt würden. Sie kämen nur, um hier Geld zu machen.

Der Jahresbericht von Amnesty International spricht eine andere Sprache: Roma, die einen Großteil der Flüchtlinge vom Balkan ausmachen, seien in Serbien "nach wie vor weitverbreiteter und systematischer Diskriminierung ausgesetzt", heißt es dort. In Albanien seien viele von ihnen Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen geworden. Trotz anderslautender Zusagen hätten sie bis heute nur sehr eingeschränkten Zugang zu angemessenem und bezahlbarem Wohnraum.

In der Tat werden die allermeisten Asylanträge von Menschen aus den Balkanstaaten abgelehnt. Teile der Bundesregierung erwägen deshalb auch diese Staaten zu "sicheren Herkunftsländern" zu erklären, wie es einige andere EU-Staaten schon gemacht haben. Das würde die Abschiebung von Flüchtlingen aus diesen Ländern erleichtern. Die Berichte von Amnesty International zeigen dennoch: Jeder Einzelfall verdient eine Prüfung, Verallgemeinerungen sind nicht angemessen.

These 3: Asylbewerber sind kriminell.

Steigt in der Nähe von Flüchtlingsheimen die Kriminalität an? Dazu gibt es wenig aussagekräftige Statistiken. Potsdamer Polizisten haben das mal exemplarisch für ein Flüchtlingsheim der Stadt über mehrere Jahre beobachtet. Ihr Ergebnis: "Statistisch hat sich das Asylbewerberheim nicht auf die Kriminalitätsentwicklung ausgewirkt."

Die Kriminalstatistik der Polizei, die gern als Argumentationshilfe benutzt wird, taugt dafür nur wenig. Denn sie erfasst erstens keine verurteilten Strafttäter, sondern nur Tatverdächtige, und sie differenziert zweitens nicht unter Ausländern. Sollte also in einer Stadt die Zahl der ausländischen Tatverdächtigen besonders hoch sein, so kann das bedeuten, dass Asylbewerber viele Straftaten begangen haben. Genauso ist aber möglich, dass ausländische Touristen die Täter waren. Oder gar, dass die Polizei Ausländer im Verdacht hatte, die Ermittlungen aber später zeigten, dass sie unschuldig waren.

Die Flüchtlinge kriegen alles bezahlt? 

These 4: "Wir" können es uns nicht leisten, all die Flüchtlinge aufzunehmen.

Über 40 Millionen Euro hat die Stadt Dortmund in ihrem Haushalt für die Unterbringung von Flüchtlingen veranschlagt. 2,77 Prozent der gesamten Ausgaben und 120 Prozent mehr als im Vorjahr. Das ist viel für eine Stadt, die genügend hausgemachte Probleme hat. Aber zu viel?

Wohl jeder von uns würde im Haushalt seiner Heimatstadt Posten finden, die er für verzichtbar hält. Sei es der Dienstwagen des Oberbürgermeisters, die Subventionen für das Kammerspiel oder die Sanierung des achten Sportplatzes. Es geht schließlich nicht um Schlaglöcher, sondern um Menschenleben. Das sollte man bei der Diskussion über Flüchtlinge nicht aus den Augen verlieren.

These 5: Wohnung, Essen, Krankenversicherung, Taschengeld: Die Flüchtlinge kriegen hier alles bezahlt.

Glaubt man den Schilderungen von Flüchtlingen, die den entbehrungsreichen und gefährlichen Weg nach Deutschland auf sich genommen haben, so hatten viele von ihnen hier das Paradies erwartet. Stattdessen wohnen sie in Massenunterkünften, werden regelmäßig in andere Städte verschoben und sind monatelang im bürokratischen Dickicht gefangen, bevor sie wissen, ob sie bleiben dürfen.

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Währenddessen bekommen sie 352 Euro pro Monat. Nur ein Teil des Geldes, 140 Euro, wird ihnen in bar ausgezahlt. Den Rest bekommen sie als "Sachleistung", beispielsweise Essen oder Kleidung. Eine Krankenversicherung haben sie nicht. In Notfällen werden sie behandelt, die Kosten übernimmt der Staat. Flüchtlingsorganisationen berichten aber, dass Flüchtlinge häufig Probleme haben, Brillen oder Krücken zu bekommen.

These 6: Und dann auch noch Begrüßungsgeld!

1000 Euro? 2000 Euro? Mancher schreibt sogar von 4000 Euro, die jeder Asylbewerber in Deutschland als sogenanntes "Begrüßungsgeld" bekomme. Was stimmt davon? Gar nichts. Es gibt kein Begrüßungsgeld. Asylbewerber bekommen die oben beschriebenen Geld- und Sachleistungen. Das war es.

Woher ein solches Gerücht stammt, ist kaum zu klären. Auf jeden Fall nutzt es denjenigen, die Flüchtlinge als teure Schmarotzer darstellen, während "ehrliche Deutsche" hart für ihr Geld arbeiten müssten.

Flüchtlinge nehmen Deutschen die Arbeitsplätze weg? 

These 7: Flüchtlinge nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg.

Das ist die Kehrseite des Schmarotzer-Arguments: Wird den Flüchtlingen nicht vorgehalten, sie würden das deutsche Sozialsystem ausnutzen, wird ihnen zum Vorwurf gemacht, sie würden Deutschen die Arbeitsplätze streitig machen. Doch selbst wenn man diesen unlogischen Widerspruch hinnimmt, bleibt das Argument falsch.

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Für Asylbewerber, um die es in der momentanen Debatte vorrangig geht, kann es gar nicht gelten: In den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland dürfen sie gar nicht arbeiten. Danach haben sie zwar theoretisch die Möglichkeit, einen Job anzunehmen. Ihre Chancen sind aber schlecht, denn es gibt die sogenannte "Vorrangprüfung": Bewerben sich ein Asylbewerber und ein gleichgeeigneter EU-Bürger auf eine Stelle, muss diese an den EU-Bürger vergeben werden. Erst nach 15 Monaten Aufenthalt erlischt diese Regelung.

Noch etwas anders gelagert ist der Fall von 30.000 Syrern, die über ein spezielles humanitäres Programm der Bundesregierung Zuflucht in Deutschland fanden. Sie erhalten meist eine auf zwei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis, müssen keinen Asylantrag stellen und dürfen sofort arbeiten.

Unstreitig ist, dass Deutschland über kurz oder lang zu wenig Arbeitskräfte haben wird, Stichwort: Fachkräftemangel. Dieses Problem kann das Land nur durch Zuwanderung lösen. Deshalb fordern Wirtschaftsverbände, die strengen Regeln für Flüchtlinge zu lockern und etwa die Vorrangprüfung abzuschaffen.

These 8: Wer genug Geld für die Überfahrt übers Mittelmeer hat, kann doch gar nicht so arm sein.

In der Tat: Kriminelle Schleuserbanden verdienen gutes Geld, indem sie Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa bringen. Oftmals verlangen sie mehrere tausend Euro für die lebensgefährliche Überfahrt in kaum seetüchtigen Booten.

Die Flüchtlinge, ihre Familien und teilweise ganze Dörfer haben oft jahrelang gespart, um nach dem Strohhalm namens Europa greifen zu können. Nach der Flucht ist von den Ersparnissen selten noch etwas übrig. Ihnen jetzt vorzuhalten, sie seien doch gar nicht arm, ist schon ziemlich abenteuerlich, um es vorsichtig auszudrücken.

These 9: Deutsche Familien werden für die Flüchtlinge aus ihren Wohnungen geworfen.

Viele Städte sind geradezu panisch auf der Suche nach Quartieren für Flüchtlinge. Zeltstädte wurden lange Zeit als menschenunwürdig betrachtet, inzwischen heiligt der Zweck die Mittel der Bezirksregierungen. In anderen Fällen wollen die Städte Gebäude anmieten, um Flüchtlinge unterzubringen.

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Meist handelt es sich dabei um leerstehende Wohnhäuser oder Kasernen. Doch einige sind auch noch bewohnt. Müssen also tatsächlich deutsche Familien ausziehen, um den Flüchtlingen Platz zu machen? Nein. Niemand werde zum Umzug gezwungen, heißt es etwa aus Mülheim, wo die Stadt 28 Wohnungen für Flüchtlinge anmieten will.

Die Wohnungsgesellschaft hat den bisherigen Mietern Angebote Umzugsangebote gemacht, aus denen diese keine finanziellen Nachteile ziehen sollen. Zum Umzug gezwungen werde niemand.

These 10: Dann sollen die "Gutmenschen" doch die Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnehmen!

"Gutmenschen", das sind im Sprech der selbsternannten "Asylkritiker" diejenigen, die sich für eine menschenwürdige Unterbringung von Flüchtlingen einsetzen und sich rechten Dumpfbacken entgegenstellen, wenn diese gegen angebliche "Überfremdung" demonstrieren.

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"Dann nehmt die Flüchtlinge doch bei euch zu Hause auf", fordern die "Asylkritiker" dann gern - und übersehen dabei zwei Dinge: Erstens gibt es Menschen, die das tatsächlich machen. Die Flüchtlinge bei sich wohnen lassen, weil sie den Platz und die Möglichkeit dazu haben.

Zweitens geht es hier um staatliche Aufgaben. Einem Bürger, der sich über Schlaglöcher beschwert, wird auch nicht entgegengehalten, er möge die Straße doch selbst reparieren. Wer gegen ein Atommüll-Endlager demonstriert, muss auch nicht damit rechnen, die Castoren im eigenen Garten vergraben zu müssen.

Es ist Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft, Forderungen an den Staat richten zu können, ohne dafür Repressalien befürchten zu müssen. Das betonen nicht zuletzt die "Asylkritiker" immer wieder. Dann sollten sie dieses Recht auch den "Gutmenschen" zugestehen.