Mukatschewe. Wirtschaftskrise und Krieg im Osten zerrütten den ukrainischen Staat immer mehr. Droht nun unweit der EU-Außengrenze ein erbitterter Bandenkrieg?

Schüsse, brennende Autos, kreisende Hubschrauber: Nur 25 Kilometer von der EU-Außengrenze entfernt entlädt sich in der Westukraine ein blutiger Verteilungskampf. Schlagartig wird der Blick auf das brutale Millionengeschäft mit geschmuggelten Zigaretten frei, als vor wenigen Tagen bei Mukatschewe sich knapp zwei Dutzend vermummte Kämpfer mit Panzerfäusten und automatischen Waffen den Weg durch Polizeisperren frei schießen. Am Ende liegen zwei Angreifer tot auf dem Asphalt, zwölf Polizisten und Passanten werden verletzt. Der von einem Sezessionskrieg gezeichneten Ukraine droht eine zweite Front.

Der Konflikt hat besondere Brisanz - denn die "Banditen" sind nicht irgendwer, sondern gehören zum Rechten Sektor. Die Ultranationalisten verstehen sich als "Helden" der prowestlichen Massenproteste in Kiew im Winter 2013/14 und kämpfen seit Monaten im Osten des Landes gegen prorussische Separatisten: gut bewaffnet und auch mit großen Opfern.

Verbrechensrate im Landesinneren steigt

Von einer "besorgniserregenden Tendenz, dass die Macht erneut auf die Straße übergeht", spricht der Kiewer Politologe Wadim Karassjow. "Im Unterschied zum bürgerlichen Protest vor einem Jahr ist es aber eine böse Masse, die von Beginn militarisiert ist", fürchtet der Experte.

Doch nicht nur die Paramilitärs sind mittlerweile ein ernstes Problem der Ex-Sowjetrepublik. Immer mehr Waffen strömen aus dem Unruhegebiet Donbass ins Landesinnere, wo auch angesichts der schlechten Wirtschaftslage die Verbrechensrate steigt. Mit Nachdruck warnt Präsident Petro Poroschenko vor einer zunehmenden Terrorgefahr. In einigen Regionen habe die Zahl der Morde, Diebstähle und Überfälle sprunghaft zugenommen, betont der prowestliche Politiker.

Spätestens seit den schockierenden Ereignissen von Mukatschewe sehen Politologen den Versuch, in absehbarer Zeit einen Rechtsstaat in dem krisengeschüttelten Land aufzubauen, immer skeptischer. Viele in Europas zweitgrößtem Flächenstaat fordern ein hartes Durchgreifen der Regierung. Sie fürchten eine völlige Verrohung der kriegsmüden Gesellschaft, wenn nun auch im bisher ruhigen, proeuropäischen Westen ein Konflikt losbricht. Der EU-Botschafter in Kiew, Jan Tombinski, mahnt: "Nur der Staat und vom Staat autorisierte Personen haben das Recht, die öffentliche Ordnung zu sichern und Waffen einzusetzen."

Neue Gewalt erschüttert den Westen

Doch die Führung um Ministerpräsident Arseni Jazenjuk, der derzeit in den USA und in Großbritannien strategische Gespräche führt, reagiert verhalten. In Regierungskreisen gehört der Rechte Sektor durchaus zum Gründungsmythos der "neuen Ukraine" nach dem Machtwechsel. Verdienste im Straßenkampf lassen ihn fast unantastbar erscheinen. Zudem will die Regierung eine zweite Front im Inneren um jeden Preis vermeiden.

Etwa zehn Kämpfern gelingt nach dem Schusswechsel in Mukatschewe die Flucht in die Wälder. Die Führung des Rechten Sektors um den Abgeordneten Dmitri Jarosch, eine schillernde Figur, spricht von "Selbstverteidigung" und verhandelt direkt mit Poroschenko. Die Waffen seien legal, da sie im Kampf gegen Separatisten erbeutet wurden, argumentieren die Ultranationalisten. Folgen bleiben aus.

Unterdessen erschüttert neue Gewalt den Westen. Im galizischen Lwiw (Lemberg) explodieren zeitgleich zwei Sprengsätze und verletzen zwei Polizisten. Das Innenministerium spricht von einem Terrorakt und zieht eine direkte Parallele zum Mukatschewe-Zwischenfall. Der Staat, so ist in Zeitungskommentaren in Kiew zu lesen, habe nach dem gewaltsamen Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch im Februar 2014 das Gewaltmonopol offenbar nicht wieder zurückerlangt.

Parlamentarier bestreiten Beteiligung an Zigarettenschmuggel

Doch Experten halten diese These für übertrieben. Sie meinen, dass die Zusammenstöße in der Westukraine vor allem einen kriminellen Hintergrund besitzen. So hätten die Abgeordneten Michail Lano und Viktor Baloga, der als "Pate" der Region gilt, bei der Aufteilung des Zigarettenschmuggels auf bewaffnete Gruppen zurückgegriffen. Die beiden Parlamentarier bestreiten eine Beteiligung.

Allerdings liefert der Gebietsgouverneur Wassili Gubal durchaus Nahrung für die These, dass in den Transkarpaten mitunter ein anderes Rechtsverständnis herrscht als etwa in Kiew. "Falls es zu einer Neuaufteilung des Schmuggels kommt, sollte das auf gesetzlichem Wege geschehen", erzählte der Politiker unbefangen dem Fernsehsender 112. Dass aber Schmuggel in einer Region, die an vier EU-Staaten grenzt, illegal sein könnte - das kam dem Gouverneur wohl nicht in den Sinn. (dpa)