Essen.. Ein Gesundheitswissenschaftler mahnt vor einer “großen, heimlichen Sucht“ in Deutschland: Millionen Menschen sind abhängig von Schlafmitteln.
Millionen Deutsche sind abhängig von Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Zu diesem Ergebnis kommt der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske. NRW gehört neben dem Saarland und Baden-Württemberg zu den Ländern Deutschlands, in denen diese Mittel am häufigsten verschrieben werden.
Prof. Georg Juckel, Ärztlicher Direktor des „Westfälischen Zentrum Bochum für Psychiatrie“, einem Institut der Ruhr-Universität Bochum, spricht von einer „großen, heimlichen Sucht“, die bei vielen der Betroffenen bereits seit Jahrzehnten bestehe.
Die Folgen seien drastisch: Neben der schädigenden Wirkung auf Kreislauf, Magen und die Nieren führe die Einnahme von Benzodiazepinen (z.B. Valium) auch zu einer riskanten Erweichung der Muskulatur. „Das ist vor allem bei älteren Menschen gefährlich. Wenn sie nachts aufstehen, besteht durch die instabile Muskulatur hohe Sturzgefahr und damit das Risiko eines Oberschenkelhalbruchs.“
Nur knapp ein Fünftel der verkauften Schlaf- und Beruhigungsmittel von Facharzt verordnet
Eine dramatische Folge sei auch die Verkehrsuntüchtigkeit, so Juckel. „Millionen Menschen begeben sich morgens um sieben Uhr auf die Straßen und sind im Grunde nicht verkehrstüchtig.“ Die Medikamentenwirkung sei noch nicht abgebaut, „und damit ist die Reaktionssicherheit deutlich eingeschränkt“.
Laut Gesundheitswissenschaftler Glaeske, der die Ergebnisse dieser ersten großen Untersuchung der „Zeit“ bereit vorgestellt hatte, verkauften deutsche Apotheken im vergangenen Jahr 18,7 Millionen verschreibungspflichtige Schlaf- und Beruhigungsmittel. Nur 18,5 Prozent der Mittel wurden von einem eigentlich zuständigen Facharzt verordnet, meistens schrieben Hausärzte das Rezept. Zunehmend würden die Mittel nicht auf Kassen-, sondern Privatrezept verschrieben. Juckel: „Die Patienten gehen oft von Arzt zu Arzt, um an ihr Medikament zu kommen. Oder sie beschaffen sich das Rezept auch schwarz.“
Ein Grund, warum Nordrhein-Westfalen bei der Verschreibungshäufigkeit an der Spitze liegt, sei laut Psychiater Juckel im hohen Alter der Menschen zu sehen. „Im Ruhrgebiet sind die Leute im Schnitt zehn Jahre älter als in anderen Regionen Deutschlands. Die Benzodiazepine werden sehr häufig alten Leuten, die unter einer Reihe von Krankheiten leiden, verschrieben.“ Auch der verstärkte Lärm im Revier spiele eine Rolle.