Ankara. Das neue Parlament soll über eine Verfassungsänderung und das Präsidialsystem entscheiden. Vieles hängt von der Kurdenpartei HDP ab.

Wenn die Türken am Sonntag ein neues Parlament wählen, geht es mehr als die Mehrheitsverhältnisse in der nächsten Nationalversammlung. Der Urnengang gilt als Richtungsentscheidung für die politische Zukunft des Landes. Präsident Recep Tayyip Erdogan und die regierende islamische Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) wollen mit einer Verfassungsänderung ein Präsidialsystem einführen, das dem Staatsoberhaupt – also Erdogan – sehr weitreichende Machtbefugnisse geben soll. Das wollen die Oppositionsparteien verhindern. Sie warnen, Erdogan wolle aus der Türkei einen autoritären Polizeistaat islamischer Prägung machen.

Rund 56,6 Millionen Türkinnen und Türken sind am Sonntag wahlberechtigt. Knapp drei Millionen wahlberechtigte türkische Staatsbürger, die im Ausland leben, konnten bereits bis zum 31. Mai ihre Stimme abgeben. Dazu waren in 54 Ländern in türkischen Konsulaten und Botschaften Wahllokale eingerichtet. In Deutschland leben etwa 1,4 Millionen wahlberechtigte Türken. Davon gaben gut 480.000 ihre Stimme ab.

Erdogan braucht eine Zweidrittelmehrheit

Für die geplante Verfassungsänderung braucht die AKP, die im gegenwärtigen Parlament über 312 Mandate verfügt, eine Zweidrittelmehrheit von 367 der 550 Sitze in der Nationalversammlung. Erhält sie wenigstens 330 Sitze, könnte sie eine Verfassungsänderung zur Volksabstimmung stellen, bei der dann die Mehrheit der Wähler ja sagen müsste. In den letzten Umfragen war die AKP, die das Land mit dem Premierminister Erdogan zwölf Jahre lang regierte und 2011 fast 50 Prozent der Wählerstimmen erhielt, zwar weiterhin unangefochten stärkste Kraft. Sie muss aber mit Stimmenverlusten rechnen. In einer Erhebung des angesehenen Instituts Konda kam die AKP auf 41 Prozent, gefolgt von der Republikanischen Volkspartei (CHP) mit 28 Prozent. Die älteste Partei der Türkei, die auf den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zurückgeht, tritt für die Trennung von Staat und Religion ein. Auf dem dritten Platz liegt die nationalistische, rechtsgerichtete MHP mit 15 Prozent.

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Wahlentscheidend könnte aber das Abschneiden der viertgrößten Partei sein, der pro-kurdischen HDP. Sie wirbt nicht nur um die Stimmen der kurdischen Minderheit. HDP-Chef Salahattin Demirtas, 42, will seine Partei zu einem Sammelbecken für linke und liberale Erdogan-Kritiker machen. Wie keine andere Partei bildet die HDP mit ihren Kandidatenlisten die ethnische, religiöse und gesellschaftliche Vielfalt der Türkei ab. 50 Prozent der Kandidaten sind Frauen.

Parteien müssen Zehn-Prozent-Hürde knacken

Die Rechnung von Demirtas könnte aufgehen. Während kurdische Parteien bei früheren Wahlen landesweit selten mehr als fünf oder sechs Prozent der Stimmen bekamen, liegt die HDP in der Konda-Umfrage bei 12,6 Prozent. Schafft sie tatsächlich den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde, werden die Karten neu gemischt. Dann könnte die HDP 50 bis 60 Sitze im neuen Parlament erobern ? vor allem zu Lasten der AKP. Erdogan müsste in diesem Fall nicht nur seine Pläne für ein Präsidialsystem begraben. Möglicherweise verlöre die AKP sogar die absolute Mehrheit und wäre zur Regierungsbildung auf einen Koalitionspartner angewiesen.

Umso mehr legte sich Erdogan im Wahlkampf ins Zeug - obwohl er als Präsident selbst gar nicht kandidiert. Dass ihn die Verfassung eigentlich zur parteipolitischen Neutralität verpflichtet, ignorierte er und machte offen Werbung für die AKP. Wie kein anderer türkischer Politiker mobilisiert der Populist Erdogan die Massen und elektrisiert die Menschen auf seinen Kundgebungen. Seine Sprache ist volksnah und plakativ. In der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern scheut Erdogan auch verbale Schläge unter die Gürtellinie nicht. Seit Jahren polarisiert der Demagoge das Land. Bisher hat ihm das genützt, wie die Präsidentenwahl vom vergangenen August zeigte, als Erdogan mit 52 Prozent der Stimmen zum Staatsoberhaupt gewählt wurde. Doch vielen Türken ist Erdogan zu mächtig geworden. Auch seine bisherige Trumpfkarte, das Wirtschaftswunder, sticht nicht mehr. Der Boom am Bosporus verliert an Glanz, die Arbeitslosigkeit wächst, die Inflation steigt. Das dürfte der AKP Stimmenverluste bescheren.