Essen. . In keiner anderen Weltreligion fand Christian sich wieder. Als sich viele radikalisierten, kehrte er allen, die Gewalt befürworteten, den Rücken.
Es gibt Bilder von Christian von damals. Sie zeigen ihn im Kaftan und der um den Kopf geschlungenen Kufiya, dem schwarz-weißen Kopftuch. Auf der Straße, im Gebet mit seinen Glaubensbrüdern. Kaftan und Kufiya trägt er heute gerne, aber er ist nicht mehr Teil der Szene.
Christian ist nicht der richtige Name des Mittzwanzigers, den will er nicht gedruckt sehen. Er wurde mehrfach von Salafisten bedroht. In dem Milieu hat er sich einige Jahre bewegt, erlebte die Radikalisierung mit. Heute bloggt er auf der Facebook-Seite „News zur muslimischen Welt“ – gegen die Radikalen.
Aufgewachsen in einer Kleinstadt unweit des Ruhrgebiets, bürgerlich protestantisches Elternhaus, Gymnasium. Keine Ausgrenzungserfahrungen. Wenn überhaupt, hat sich Christian selbst ausgegrenzt in seiner Ablehnung der westlichen Jugendkultur. Er war „stockkonservativ“, befasste sich früh mit Religion. „Wenn man bei Konvertiten das typische Schlüsselerlebnis in der Biographie sucht, war es bei mir der Tod meines Vaters an Krebs.“ Und die Fragen nach Gerechtigkeit, Schuld und Sühne.
Mit 18 las ererstmals den Koran
Christian war 14, tastete sich durch die Weltreligionen; mit 18 las er erstmals den Koran. „Da habe ich das Gottesbild gefunden, das ich gesucht habe und das, was meinem moralischen Kompass entsprach.“ Er vertiefte sich in die Religion, die islamische Theologie und Geschichte, diskutierte im Internet auf SchülerVZ mit Muslimen. Im Herbst 2007 ging er erstmals in die Moschee, konvertierte bald darauf. „Die Konversion kann man durchaus mit einem Rauschzustand vergleichen, man ist erfüllt von tiefem Glücksgefühl, fühlt sich aufgenommen in der Gemeinschaft, wo Herkunft, Alter, Sprache, in diesem Moment keine Rolle spielen. Aber dieser Schein trügt.“
Bis heute wird in vielen Moscheen auf Arabisch oder Türkisch gepredigt. Die Sprache und der „Kulturislam“ vieler Muslime grenzt Konvertiten häufig aus. Genau da bieten Salafisten mit ihrem „kulturbereinigten“ strengen Islam in deutscher Sprache ein attraktives Angebot für Konvertiten und junge Muslime. Bei ihnen haben Jugendliche das Gefühl, Teil des großen Ganzen zu sein. Christian tauchte in die Szene ein, lernte die Köpfe der Szene wie den Starprediger Pierre Vogel kennen. Damals sei der zwar Fundamentalist gewesen, habe aber gegen die Befürworter von Gewalt gepredigt. 2009 und 2010 war die Szene weitgehend zweigeteilt gewesen: Hier stand die Gruppe „Einladung zum Paradies“ (EZP) um Pierre Vogel, dort die Organisation „Die wahre Religion“ (DWR) um den Palästinenser Ibrahim Abou Nagie, die seit 2011 mit der Koran-Verteilaktion auf deutschen Straßen Schlagzeilen macht.
Vogel kritisierte damals wiederholt scharf Abu Nagies öffentliche indirekte Agitation zugunsten extremistischer und gewaltbereiter Gruppen. Im Februar 2012 bewarb DWR gemeinsam mit der Solinger Organisation Millatu Ibrahim in Neuss bei einem Seminar das Koranprojekt, seine Sitznachbarn am Tisch, der Berliner Ex-Rapper Denis Cuspert und Mohamed Mahmoud, kämpfen heute beide für den „Islamischen Staat“.
Selbst radikalePrediger machtlos
„Gewalt und Terror habe ich immer abgelehnt.“ sagt Christian. „Was ich aber wollte war, dass der Islam in Deutschland besser dasteht. Mir hat die wachsende Islamfeindlichkeit Angst gemacht.“ Er machte „Dawa“, Missionierungsarbeit auf der Straße, ging zu Demonstrationen und öffentlichen Gebeten, verteilte an Infoständen Broschüren über den Islam.
Im April 2011 kam es zur Versöhnung zwischen Vogel und Nagie. Christian sagt, der öffentliche Druck habe Vogel radikalisiert. Im Juni 2011 löste sich EZP auf. „Damit ist das Machtgleichgewicht in der Szene völlig zugunsten der Radikalen gekippt.“, so Christian.
Ihm sei es zu viel geworden, die Wut, der Hass, die immer radikaleren Töne. Er löste sich von der Szene. Heute will er junge Muslime vor dem Abgleiten in den Extremismus abhalten. Der deutsche Staat, sagt er, habe die Radikalisierung in der Szene verschlafen. Heute sei die Szene kaum noch steuerbar, selbst radikale Prediger hätten kaum noch Einfluss. „Es läuft völlig aus dem Ruder.“