Berlin/Dortmund. . Die Bundesregierung will den Flüchtlingskindern helfen und alle Städte in die Pflicht nehmen. Dortmund ist besonders betroffen.

Die Bundesregierung will die Lage von Kindern und Jugendlichen verbessern, die in wachsender Zahl als unbegleitete Flüchtlinge nach Deutschland kommen: Um ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen und besonders betroffene Kommunen wie Hamburg, Berlin oder Dortmund zu entlasten, sollen allein reisende minderjährige Flüchtlinge künftig auf Städte und Gemeinden in ganz Deutschland verteilt werden.

Flüchtlinge in DortmundIn NRW gehören neben Dortmund noch Köln und Aachen zu den Kommunen, die die meisten Kinder in Obhut nehmen müssen. Im Jahr 2013 lag die Zahl der minderjährigen Flüchtlinge bei 6584. Für 2014 rechnet NRW-Familienministerin Ute Schäfer (SPD) mit einem erneuten Anstieg. Bei der Bundespolizei stieg die Zahl der Aufgriffe 2014 um 150 Prozent.

Kommunen sollen entlastet werden

"Die Kommunen, in denen die Situation so schwierig ist, müssen entlastet werden“, so Familienministerin Manuela Schwesig (SPD). Nach Informationen unserer Redaktion will Schwesig bis März einen Gesetzentwurf vorlegen. Geplant ist, dass die neue Regelung noch in diesem Jahr in Kraft tritt.

Im Moment müssen minderjährige Flüchtlinge dort untergebracht und betreut werden, wo sie von den Behörden zum ersten Mal erfasst werden. Dahinter steht das Bemühen, die jungen Flüchtlinge nicht zusätzlich zu belasten: Kinder und Jugendliche sollen nach ihrer Flucht möglichst nicht auch noch innerhalb von Deutschland weitergeschickt werden, sondern an dem Ort zur Ruhe kommen, den sie angesteuert haben - um Verwandte oder Bekannte zu treffen oder weil Schleuser sie dorthin gebracht haben.

Die Städte sind häufig überfordert

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„Aber diese Idealvorstellung trägt nicht mehr“, sagt Schwesig. Die wachsenden Flüchtlingsströme sprengten die Möglichkeiten der Städte, die Situation sei nicht mehr zu halten: „Es ist sicher besser, noch einmal in Deutschland begleitet zu reisen, als in einer überfüllten Unterkunft leben zu müssen.“ Mit dem neuen Gesetz will Schwesig die Situation entzerren, „um individuelle Betreuung in kleineren Jugendwohngruppen oder im Idealfall in Pflegefamilien zu gewährleisten“.

Dafür müssten die Kapazitäten in ganz Deutschland genutzt werden. „Wir können nicht erwarten, dass einige wenige Städte das Problem aller unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge lösen.“ Schwesig will zugleich auch die Integrationschancen der jungen Flüchtlinge verbessern und ihnen eine Perspektive geben. Es sei gut, wenn die Kinder und Jugendlichen „die Sprache lernen und eine Ausbildung beginnen“.

Mit 16 auf „Weltreise“

Sie waren zu Dritt, Massud und seine kleinen Brüder. Drei Kinder auf sich allein gestellt, auf dem Weg von Afghanistan nach Deutschland. Über den Iran geht es weiter in die Türkei, wo sie von den Schleusern getrennt werden. Massud zieht allein weiter. Erst schafft er es mit einem Schlauchboot auf eine griechische Insel, in Athen lebt er monatelang auf der Straße.

Ein Trucker-Fahrer nimmt ihn mit nach Italien, weiter geht es nach Frankreich, einen Kumpel auf der Flucht zieht es zu Verwandten in Hamburg, Massud schließt sich an. Im Oktober 2010 landet Massud Rahmati in Hamburg, er ist gerade 16 Jahre alt geworden.

Immer mehr Minderjährige kommen allein

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Es sind Einzelschicksale. Stimmt. Aber sie nehmen zu. Seit Jahren steigt die Zahl der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge. 2008 waren es 763, 2012 dann 4767, ein Jahr später schon 6584 und davon 1519 in NRW. Aus der bisherigen Entwicklung leitet Familienministerin Ute Schäfer (SPD) für 2014 einen erneuten Anstieg ab. Die Statistik ist wirr. Mal werden die Einreisen, mal die Asylanträge gezählt. Viele Kinder werden älter geschätzt und werden herausgerechnet. Nur eines ist allen Statistiken gemein: der steile Anstieg.

Anruf bei der Bundespolizei, ihre Beamten greifen viele der Kinder auf. Die Zahl sei 2014 um 150 Prozent gestiegen, teilt die Behörde mit. Überwiegend kämen die Kinder aus Afghanistan, Eritrea, Somalia, Syrien und Marokko. Krisenregionen. Selbst für hart gesottene Beamte sei es keine „alltägliche Situation“. Sie geben die Kinder in Obhut des Jugendamtes, zurück bleibt ein Gefühl der Fassungslosigkeit.

Mädchen landen bei Verwandten, Jungs sollen sich durchschlagen 

Es sei „unverantwortlich, wenn Minderjährige aus finanziellen Gründen allein nach Deutschland geschickt werden“, sagt uns der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann. Thomas Berthold kennt viele Gründe, warum Familien ihre Kinder losschicken. Manchmal ist das Familienoberhaupt verstorben. Die Mädchen landen bei Verwandten, die Jungs sollen sich durchschlagen.

Viele fliehen auch, um nicht in die Armee eingezogen werden. Berthold ist Referent beim Bundesverband Unbegleitete Flüchtlinge. Vor der Kinderkommission des Bundestages traf er auf Massud. Es hat gedauert. Aber nun ist das Thema in Berlin angekommen. Mehr noch: Die Bundesregierung steht unter Druck.

De Maizère bereit zu Reformen

Die Länder fordern zum einen, die Kinder bundesweit zu verteilen, weil einige Kommunen überfordert sind. Zum anderen sollen sie rechtlich geschützt werden. Sie sollen einen Schul- und Ausbildungsabschluss machen können. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) räumt ein, dass sich bei minderjährigen Flüchtlingen einige Streitfragen des Ausländerrechts „verschärft“ stellen. Er sei bereit, „darüber zu reden“.

Nennen wir es Prävention. Denn das Risiko, dass Kinder in die Kriminalität abgleiten, ist groß. In Hamburg ist es ein Stadtthema, in Dortmund könnte es eines werden. Hier sprechen die Sicherheitsbehörden von einer „polizeilichen Problemstellung“. Die Täter stammten vor allem aus Nordafrika. Von einer besonders auffälligen Kriminalität der jungen Flüchtlinge will die Polizei in der Westfalenmetropole allerdings nicht sprechen. Die Zahl dieser Straftäter wird in der Statistik nicht gesondert erfasst. In Hamburg ist das anders.Nach einem Dossier des LKA in Hamburg sind rund ein Viertel der 111 jugendlichen Intensivtäter unbegleitete Flüchtlinge.

Dortmund nahm 312 Kinder in Obhut, Kleve nur 16

Manche Kinder werden von der Polizei aufgegriffen. Andere sprechen Passanten auf der Straße an. Wieder andere werden von Schleppern und Schleusern direkt zum Jugendamt gebracht, erzählt Berthold. Anders als normale Asylbewerber werden sie nicht verteilt.

Und das führt wiederum dazu, dass sie sich auf relativ wenige Städte konzentrieren: Entlang der A7, Deutschlands längster Autobahn, auf Drehkreuze wie Frankfurt, Köln und München (wo viele Züge aus Italien ankommen), in Hamburg, das eine große afghanische Gemeinde hat, auf Städte mit Aufnahmelagern wie Dortmund und im grenznahen Raum, zum Beispiel in Aachen.

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Dortmund als wichtige Anlaufstelle

Von den 1519 Kinder-Flüchtlingen in NRW im Jahr 2013 sind 559 in Köln, 312 in Dortmund, 236 in Düsseldorf und immerhin 127 in Aachen. Kleve nahm 16 Kinder in Obhut, mehr als Essen, Hamm, Duisburg oder Oberhausen. In der Landesregierung hört man den Verdacht, dass Holland und Belgien viele Flüchtlingskinder durchwinken.

Die Stadt Dortmund geht davon aus, dass Schleuser vielen Familien dazu raten, dass sich ihre Kinder in Dortmund melden sollten. Dort gibt es eine zentrale Erstaufnahmeeinrichtung des Landes, und deren Mitarbeiter haben Erfahrung mit dieser schutzbedürftigen Klientel. Das Jugendamt verteilt die Flüchtlinge auf diverse Wohngruppen und spezielle Heime in Dortmund und Bochum.

Bis 2005 Unterbringung in einem Heim mit Erwachsenen

Nach Einschätzung des Flüchtlingsrates NRW ist die Betreuung dieser Kinder und Jugendlichen vor einigen Jahren „erheblich verbessert“ worden. „Vorher wurden sie in normalen Flüchtlingsheimen zusammen mit Erwachsenen untergebracht. Nun ist ihre Betreuung und Versorgung zumindest altersgerechter geworden“, sagte Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat.

Nachdem die Länder Ende 2014 im Bundesrat Druck gemacht haben und im Kanzleramt vorstellig wurden, fühlt sich nicht nur der Innenminister auf den Plan gerufen. Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) will alsbald eine Gesetzesinitiative ergreifen, um die minderjährigen Flüchtlinge im ganzen Bundesgebiet zu verteilen. Damit hilft sie den Kommunen, aber auch den Jugendlichen. Statt in überfüllten Unterkünften zu leben, sollen sie besser betreut werden, in kleineren Wohngruppen und im Idealfall (Schwesig) in Pflegefamilien.

Die FUNKE MEDIENGRUPPE, zu der auch diese Redaktion gehört, startet gemeinsam mit der Caritas eine Initiative zur Unterstützung minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge.

Unter dem Motto „Zukunft schaffen“ werden Aktionen initiiert und unterstützt, die diese Flüchtlinge fördern. Wir berichten in dieser Zeitung in loser Folge über die Initiative.